Sie hoffen auf eine Außenseiterchance, träumen von Medaillen und sind froh, überhaupt wieder ihren Sport betreiben zu können: Erstmals ist bei Olympia ein Flüchtlingsteam dabei.
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Foto: wikimedia |
Seit einigen Tagen laufen die Olympischen Spiele in Rio. Erstmals ist ein Team von zehn Flüchtlingen am Start. Sie treten weder für ihr Heimat, noch für ihr Gastland an, sondern laufen unter der Flagge und zur Hymne der Olympiade. Ausgewählt wurden die Sportler zum einen nach ihren Leistungen, aber auch nach ihrer charakterlichen Reife. Zudem müssen sie von den Vereinten Nationen als Flüchtlinge anerkannt sein. „Das Flüchtlingsteam spiegelt den wahren olympischen Geist wider. Wir wollen diesen Athleten ein Zuhause geben, wir wollen ihnen die gleichen Möglichkeiten geben, wie den anderen Athleten in der Welt. Wir wollen der Welt zeigen, dass diese Athleten, so wie alle Flüchtlinge, eine Bereicherung sein können“, sagt Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees.
Anjelina Nadai Lohalith
21 Jahre alt
aus dem Südsudan
lebt in Nairobi, Kenia
Disziplin: 1500-Meter-Lauf
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Foto: IOC |
„Ich bin sehr glücklich, an Olympia teilnehmen zu dürfen. Es ist in jedem Fall ein Erfolg für mich.“ Anjelina Lohaliths Eltern leben noch im Südsudan. Seit ihrer Flucht aus ihrem Dorf mit sechs Jahren hat sie keinen Kontakt mehr zu ihnen oder ihren Geschwistern.
„Als der Bürgerkrieg ausbrach, wurde alles zerstört.“ Lohalith flüchtete allein und kam ins Flüchtlingslager Kakuma in Kenia. Mit rund 180 000 Bewohnern ist es eines der größten Lager weltweit. Hier besuchte sie die Schule – und fing mit dem Laufen an. Sie gewann einige Schulwettbewerbe und wurde schließlich von einem Team aus professionellen Trainern entdeckt.
„Es war eine Überraschung. Eigentlich habe ich es nur aus Spaß gemacht. Der Auswahltest war nur ein Versuch und auf einmal sagen sie zu mir ‚Du wirst jetzt bei uns trainieren.’“ Bei uns heißt: In der Sportstiftung der kenianischen Marathon-Olympiasiegerin Tegla Loroupe. Von Rio erhofft sie sich: Geld verdienen, um ihrem Vater zu helfen, ein besseres Haus zu bauen. Sie möchte ihre Eltern wiedersehen.
Yiech Pur Biel
21 Jahre alt
aus dem Südsudan
lebt in Nairobi, Kenia
Disziplin: 800-Meter-Lauf
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Foto: IOC |
„Flüchtling ist auch nur eine Bezeichnung. Wir sind alle Menschen“, sagt Yiech Pur Biel. Vor elf Jahren floh er aus seiner Heimatstadt Nasir vor dem Bürgerkrieg im Südsudan, er lebte zehn Jahre im Kakuma-Flüchtlingslager. „Im Camp hatten wir keine Sporthalle, nicht einmal Schuhe. Selbst das Wetter erlaubt kein gutes Training, denn es ist von morgens bis abends heiß.“ Erst vor einem Jahr nahm er erstmals an einem Laufwettbewerb teil – dem Auswahltest der Stiftung der Olympiasiegerin Tegla Loroupe. Heute trainiert er unter ihr in Nairobi. „Mit Schuhen“, sagt Biel und grinst.
„Rio wird eine einmalige Zeit in meinem Leben. Die Geschichte werde ich noch meinen Kindern und Enkeln erzählen. Selbst wenn ich kein Silber oder Gold gewinne, kann ich der Welt zeigen, dass man als Flüchtling etwas erreichen kann.“
James Nyang Chiengjiek
28 Jahre alt
aus dem Südsudan
lebt in Nairobi, Kenia
Disziplin: 200-Meter-Lauf
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Foto: IOC |
Im Jahr 2001 verlässt James Nyang Chiengjiek seine Heimatstadt Bentiu – mit 13 Jahren. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen Vater im Bürgerkrieg verloren. Chiengjiek blieb. Doch das Risiko von Rebellen aufgegriffen und als Kindersoldat rekrutiert zu werden, wurde größer. „Selbst wenn du erst zehn Jahre alt bist, zwingen sie dich, sich ihnen anzuschließen. Also rannte ich davon.“
Im Kakuma-Flüchtlingslager fängt er das Lauftraining an – und entdeckt im Wettkampf sein Talent. „Das war der Augenblick als ich merkte, ich könnte als Läufer erfolgreich sein. Wenn Gott dir ein Talent gibt, musst du es nutzen.“ Ebenfalls über die Tegla-Loroupe-Stiftung hat er es nun zu Olympia geschafft. „Mein Traum ist es, den Menschen zu helfen. Ich wurde unterstützt, nun möchte ich jemanden unterstützen.“
Yonas Kinde
36 Jahre alt
aus Äthiopien
lebt in Luxemburg
Disziplin: Marathon
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Foto: IOC |
Als Teenager begann Yonas Kinde an 10 000-Meter-Läufen und Halbmarathons teilzunehmen. Doch in Äthiopien sah er keine Zukunft: „Es ist unmöglich für mich, dort zu leben. Es gibt viele Probleme – moralische, wirtschaftliche und es ist sehr schwierig, dort Athlet zu sein.“ Kinde redet nicht gerne über seine Fluchtgründe. Nur so viel: „Es ist dort lebensgefährlich für mich.“
An seiner Liebe zum Sport hat sich aber nichts geändert. „Ich kann das Gefühl beim Laufen nicht erklären. Es ist pure Energie.“ In Luxemburg wurde er Mitglied eines Sportvereins und der beste Langstreckenläufer des Landes. Mit einer Zeit von 2 Stunden und 17 Minuten qualifizierte er sich beim Frankfurt-Marathon im Oktober 2015. „Olympia ist meine Chance. Ich habe gute Ergebnisse erzielt und Preise gewonnen. Es wird großartig werden und ich werde mein Bestes geben.“
Yusra Mardini
18 Jahre alt
aus Syrien
lebt in Berlin
Disziplin: 200 Meter Freistil
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Foto: IOC |
In Syrien gehörte Yusra Mardini zum nationalen Schwimmteam, startete 2012 bei den Kurzstreckenweltmeisterschaften in der Türkei. Doch der Krieg veränderte alles: „Manchmal konnten wir nicht trainieren und manchmal trainierten wir und Bomben fielen aufs Schwimmbecken.“ Sie und ihre Eltern sahen keinen anderen Ausweg: Im August 2015 floh Mardini zusammen mit ihrer Schwester. Von Damaskus aus reis
ten sie über den Libanon in die Türkei. Von dort setzten sie mit einem Schlauchboot zur Insel Lesbos über. Doch das überfüllte Boot drohte, zu sinken. Ohne zu zögern, sprangen Mardini und ihre Schwester ins Wasser. Abwechselnd zogen sie und ein Mann das Boot schwimmend an Land – vier Stunden lang. „Die Leute im Boot beteten. Es war schrecklich, zu wissen, ‚du bist ein Schwimmer und du könntest hier im Wasser sterben.‘“
Über die Balkanroute kommt sie nach Deutschland, lebt jetzt in Berlin und trainiert bei den Wasserfreunden Spandau 04. Nationalitäten spielen für sie im Wasser keine Rolle: „Als Athlet denkst du nicht, dass du Syrerin bist oder aus London oder aus Deutschland kommst. Du denkst nur an dein Rennen. Du hast deine Bahn, deine Schwimmkappe, deine Taucherbrille. Das ist es.“
Mit ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen möchte sie die Menschen inspirieren: „Wenn du ein Problem in deinem Leben hast, dann sitze nicht nur da und weine wie ein Baby. Mein Problem ist der Grund, warum ich hier bin und warum ich nun stärker bin. Ich will meine Ziele erreichen. Ich möchte zeigen, dass jeder das machen kann, woran er im Herzen glaubt.“
Popole Misenga
24 Jahre alt
aus der Demokratischen
aus der Republik Kongo
lebt jetzt in Rio de Janeiro, Brasilien
Disziplin: Judo (Gewichtsklasse bis 90 Kg)
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Foto: IOC |
„Judo hat mein Leben verändert. Als Kind brauchst du eine Familie, die dir zeigt, was zu tun ist. Ich hatte keine“, sagt Popole Misenga. Seine Mutter wurde während des Zweiten Kongokriegs getötet, sein Bruder wird seitdem vermisst. Aus seiner Heimatstadt Kisangani flüchtete Misenga in den Busch, lief eine Woche umher ehe er entdeckt und in ein Zentrum für Waisenkinder in die Hauptstadt Kinshasa gebracht wurde.
Dort begann er, Judo zu trainieren. „Es half mir, weil es mir Ruhe gibt, Disziplin, eine Richtung, alles. Es ist ein Teil meines Lebens.“ 2010 gewann er eine Bronzemedaille bei der U20-Afrika-Meisterschaft. 2013 reiste er nach Rio de Janeiro zu den Judoweltmeisterschaften. Er hatte den Krieg überlebt, doch er litt unter dem harschen Trainingssystem: Trainierten die Athleten nicht gut, wurden sie ohne Nahrung in Käfige gesperrt. In Rio nutzte Misenga die Gelegenheit und beantragte Asyl.
Heute ist er mit einer Brasilianerin verheiratet, hat einen kleinen Sohn und lebt in der Favela Brás de Pina nördlich von Rio. „Es fühlt sich merkwürdig an, wenn ich daran denke, dass ich nun ein Olympionike bin. Es ist war; es ist kein Traum, sondern Realität. Ich bin olympischer Athlet.“
Rami Anis
25 Jahre alt
aus Syrien
lebt in der Nähe von Gent, Belgien
Disziplin: 100 Meter Schmetterling
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Foto: IOC |
Rami Anis lebte im syrischen Aleppo. Vor fünf Jahren, da war er gerade 20 Jahre alt, hätte er zum Armeedienst eingezogen werden müssen. Doch er wollte dem Krieg entkommen, floh zunächst zu seinem Bruder in die Türkei. „In der Tasche, die ich mitnahm, waren zwei Jacken, zwei Shirts und zwei Hosen. Ich dachte, ich würde nach einigen Wochen zurückkehren.“ Doch der Krieg dauert an. Anis ging nach vier Jahren in der Türkei nach Belgien, zog in die Nähe von Gent.
Dem Schwimmen ist er treu geblieben. In Istanbul trainierte er im Galatasaray Sportclub. Doch an Wettbewerben konnte er ohne die türkische Staatsangehörigkeit nicht teilnehmen. „Es ist, als wenn man studiert und studiert und nie das Examen machen kann.“ Das ändert sich mit seiner Olympiateilnahme. „Es ist ein großartiges Gefühl. Es ist das größte Event auf der Welt. Ich bin sehr stolz, gegen die Besten der Welt anzutreten.“ Außerdem freut er sich, seinem Idol zu begegnen: Michael Phelps, der 18 Mal olympisches Gold gewann.
Yolande Mabika
28 Jahre alt
aus der Demokratischen Republik Kongo
lebt in Rio de Janeiro, Brasilien
Disziplin: Judo (Gewichtsklasse bis 78 Kg)
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Foto: IOC |
Als Yolande Mabika klein war, wurde sie von ihren Eltern getrennt. Sie stammt aus der Region Bukavo, die besonders vom Zweiten Kongokrieg betroffen war. Sie erinnert sich nur daran, dass sie alleine lief, entdeckt und mit einem Helikopter in die Hauptstadt Kinshasa gebracht wurde.
In einem Zentrum für geflüchtete Kinder fing sie mit dem Judo an. „Durch den Sport bin ich nie an Geld gekommen, aber es hat mir ein starkes Herz gegeben.“ Aber wie ihr Teamkollege Popole Misenga litt sie unter dem Missbrauch der Trainer. Mit Hilfe der Caritas reichte sie während der Weltmeisterschaften in Rio de Janeiro 2013 einen Asylantrag ein.
„Meine Botschaft ist: Gebt nicht eure Hoffnung auf, glaubt daran, vertraut eurem Herzen. Wir haben Leid im Kongo erlebt. Das ist der Fall bei allen Flüchtlingen, die unter dem Verlust ihrer Familien, unter Kriegen und Morden leiden.“
Paulo Amotun Lokoro
24 Jahre alt
aus dem Südsudan
lebt in Nairobi, Kenia
Disziplin: 1500-Meter-Lauf
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Foto: IOC |
„Es wäre ein Traum, einen Rekord zu brechen. Eine Goldmedaille zu gewinnen, das ist mein Traum“, sagt Paulo Amotun Lokoro. Vor zwölf Jahren sah seine Welt ganz anders aus. Im Südsudan brach die Gewalt aus, seine Eltern flohen nach Kenia, ließen ihn bei einem Onkel zurück. Doch auch dort war er nicht sicher. „Der Krieg kam und wir rannten weg. Wir rannten in den Busch und blieben dort. Wir hatten nichts zu essen, nur Früchte.“
Auch er landet schließlich im Flüchtlingslager im kenianischen Kakuma. Über das Auswahlverfahren der Tegla-Loroupe-Stiftung trainiert er heute in Nairobi. „Bis ich hierher kam, hatte ich nicht einmal Laufschuhe. Dann trainierten wir, trainierten bis wir uns auf einem guten Level sahen. Jetzt weiß ich, was es heißt, Athlet zu sein.“
Rose Nathike Lokonyen
23 Jahre alt
aus dem Südsudan
lebt in Nairobi, Kenia
Disziplin: 800-Meter-Lauf
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Foto: IOC |
Vor nicht einmal einem Jahr rannte sie noch barfuss durch das Flüchtlingslager in Kakuma. Heute ist sie über ihren eigenen Fortschritt noch erstaunt: „Ich kann das Laufen als Sport treiben, oder, wie ich jetzt sehe, sogar als Karriere.“
Mit zehn Jahren flohen sie und ihre Familie aus dem Südsudan, um der Gewalt zu entkommen. 13 Jahre verbrachte sie im Flüchtlingslager. „Wenn unsere Eltern uns nicht hierher gebracht hätten, hätten wir sterben können.“ Ihre Eltern gingen 2008 in den Südsudan zurück und entschieden, ihre Kinder in Kakuma zu lassen. Zu der Zeit entdeckte Lokonyen ihre Liebe zum Laufen.
Auch sie wurde von der Stiftung der Olympiasiegerin Tegla Loroupe ausgewählt. „Es war ein Wettbewerb unter den Flüchtlingen. Wir rannten zehn Kilometer und ich wurde Zweite. Es war das erste Mal für mich, dass ich überhaupt lief.“
„Mein Traum, meine oberste Priorität ist, meinen Eltern, Geschwistern und auch anderen Flüchtlingen zu helfen. Vielleicht kann ich, wenn ich erfolgreich bin, in den Südsudan zurückkehren und einen Wettbewerb veranstalten, der die Leute zusammenbringt und Frieden schafft.“