Mitten in der ehemals freien Bergstadt Sankt Andreasberg steht die „Kleine Kapelle“. Ein Schild in Tannenform erzählt die Geschichte des einst dem Heiligen Bernward gewidmeten Kirchleins.
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Auch das Restaurant „Kleine Kapelle“ hat Jutta Tieben besucht. „Das war schon ein komisches Gefühl in meiner alten Kirche“, sagt sie. Foto: Deppe |
Mühsam strampelt ein Radfahrer die Herrenstraße hinauf vorbei an der „Kleinen Kapelle“. 22 Prozent Steigung muss er überwinden, denn die Herrenstraße ist die steilste Straße in den Städten und Dörfern des Harzes.
Nachdenklich blickt Jutta Tieben zum ehemaligen Gotteshaus. Sie wurde hier getauft. Ging hier zur Kommunion. „Eigentlich habe ich die Kapelle gar nicht in so guter Erinnerung. Sie war immer dunkel und feucht“, sagt die 65jährige Andreasbergerin. Im Gottesdienst saßen die Mädchen links und die Jungen rechts – wie das damals üblich war. „Eine alte Frau kam immer zu spät zur Messe und hat sich dann zu uns Mädchen in die Bank gedrückt. Dann war es sehr eng. Und im Winter hatte sie einen Mantel an, der nach Mottenkugeln gerochen hat. Das war schon sehr unangenehm“, erzählt Jutta Tieben.
Katholiken waren so etwas wie Exoten
Als Katholik war man in Andreasberg in der Minderheit. „Fronleichnam ist unsere kleine Gemeinde in Prozession einmal um die Kapelle gezogen. Von den Passanten wurden wir belächelt“, erinnert sie sich. Und Ökumene? „Die gab es damals noch nicht. Im Gegenteil: Unser alter Pfarrer, und er war wirklich schon alt, schimpfte immer auf die Evangelischen. Für mich war das unverständlich. Denn ich bin in einer sehr netten evangelischen Familie aufgewachsen. Nur meine Mutter, die aus dem Eichsfeld stammte, und wir Kinder waren katholisch. Erst mit dem nächsten Pfarrer, Otto Menk, der kam 1967 und war gleichzeitig auch Studentenseelsorger in Clausthal-Zellerfeld, fing die Ökumene an. Heute ist sie das Normalste auf der Welt“, meint Jutta Tieben und berichtet vom ökumenischen Gemeindenachmittag jeden 1. Mittwoch im Monat und vom ökumenischen Frühstück jeden 3. Mittwoch im Monat. „Immer im Wechsel evangelisch – katholisch. Da helfe ich mit.“
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Vom Glockenturm hat man einen guten Blick auf Sankt Andreasberg. Klein und unscheinbar liegt die „Kleine Kapelle“ im Herzen der Harzstadt. |
Die „Kleine Kapelle“ in Sankt Andreasberg wurde 1927 erbaut, als nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der katholischen Einwohner im Lungenkurort auf über 50 angestiegen war und viele katholische Patienten der Lungenheilanstalt gern eine Messfeier im Ort besuchen wollten. Durch Flüchtlinge und Heimatvertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die katholische Gemeinde weiter. „Und in den Sommermonaten, wenn die Touristen kamen, war die Kapelle so voll, dass viele vor der Kirchtüre stehen mussten. Als Jugendliche kamen wir dann extra so spät, dass wir draußen stehen konnten, denn in der Kapelle war es heiß und stickig.“
Mitte der 1960er-Jahre hatte Sankt Andreasberg rund 4000 Einwohner darunter etwas mehr als 400 Katholiken. So wurde 1967 am Rande des Kurparks die neue St.-Andreas-Kirche erbaut – mit Pfarrzentrum. „Ich glaube, kaum ein Kirchgänger hat der alten Kapelle eine Träne nachgeweint. Alle waren froh, nun eine große, helle und schöne Kirche zu haben.“
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Während Jutta Tieben erzählt, kommt Thorsten Brockmann vorbei. Einen kleinen schwarz-weißen Hund mit 96-Halstuch an der Leine, er die 96-Baseball-Kappe auf dem Kopf und die Brötchentüte in der Hand. Er war von 1997 bis 2002 Pächter der „Kleinen Kapelle“. Denn 1985 wurde das Gotteshaus profaniert, offiziell entweiht, und zum Restaurant umgebaut. „Das lief auch ganz gut, wir konnten davon leben. Doch dann schrumpfte die Einwohnerzahl immer mehr und es kamen weniger Touristen. Da haben wir aufgehört“, sagt Brockmann.
Mit wechselnden Pächtern ging es dann von der gehobenen, rustikalen Harzer Küche bergab bis zur Fastfood-Gastronomie. Seit März ist die „Kleine Kapelle“ nun erst einmal geschlossen.
Bei einem Cappuccino in einem Cafe in der Nähe erzählt Jutta Tieben, dass die „Kleine Kapelle“ ein bisschen die Situation Andreasbergs widerspiegelt. „Viele Geschäfte haben zugemacht, Restaurants aufgegeben. Die Bevölkerung sank in den letzten Jahren auf unter 2000.“ Und die einst freie und reiche Bergstadt ist seit 2011 nur noch ein Stadtteil von Braunlage. „Aber ich habe das Gefühl, dass die Talsohle inzwischen durchschritten ist und es langsam wieder bergauf geht.“
Auf dem Weg zur neuen Kirche erzählt Jutta Tieben von sich. Ihren Mann hat sie aus Hessen mitgebracht, wo sie im Taunus Hotelfachfrau gelernt hat und er Koch war. „Wir haben 1969 in unserer neuen Kirche geheiratet.“ Beide arbeiteten in der Rehbergklinik, bis sie vor ein paar Jahren geschlossen wurde. Ehrenamtlich engagieren sie sich im Heimatverein und im Harzklub.
Obwohl es schwül ist und über den Bergen rund um Sankt Andreasberg Gewitterwolken aufziehen, ist es in der St.-Andreas-Kirche hell und angenehm kühl. „Gern sitze ich hier auch einmal für zehn Minuten allein in der Bank, um durchzuatmen und die Seele baumeln zu lassen.“
Von der Kirche geht es durch den leeren Kurpark, vorbei am Hochseilgarten mit der Seilrutsche über den Hilfe-Gottes-Teich. Immer wieder trifft man in der Stadt Autos mit niederländischen und dänischen Kennzeichen. Jutta Tiebens Erklärung: „Die Holländer lieben den Harz und kaufen sich hier leere Häuser und bauen sie für sich zu Ferienhäusern um. Und die Dänen machen gern bei uns Urlaub.“
Am Glockenturm hoch über der Stadt erzählt Jutta Tieben vom Stadtbrand 1796, als während eines heftigen Gewitters durch ein vom Blitzschlag ausgelöstes Feuer 249 Gebäude zerstört wurden – darunter die evangelische Dreifaltigkeits-Kirche, das Rathaus, die Apotheke und das Schulhaus. Danach wurde der Glockenturm getrennt von der neuen Martini-Kirche auf den Glockenberg gebaut und gilt heute als das Wahrzeichen der Bergstadt.
Berühmt geworden ist St. Andreasberg besonders im 16. und im 18. Jahrhundert durch den Silber-abbau. Der lockte sogar Goethe an. Gleich zweimal besuchte er die Stadt und informierte sich in der Grube Samson, die noch heute besichtigt werden kann, über den Bergbau im Harz.
Ausflugsziel Dreibrodestein
Jutta Tieben liebt die Natur. „Mit unseren beiden Kindern sind wir viel rund um Sankt Andreasberg gewandert. Und auch heute zieht es meinen Mann und mich immer wieder in den Wald und auf die Bergwiesen.“ Der Höhenweg über die Berge rund um Andreasberg ist ihr Lieblingsweg. „Früher bin ich ihn in eins durchgewandert. Heute muss ich Rücksicht auf mein Knie nehmen und gehe ihn in Teilstücken.“
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Nur wenige Kilometer sind zum Dreibrodestein zu wandern. |
Beliebte Ziele sind das Rehberger Grabenhaus, der St.-Andreasberger-Rinderstall und der Dreibrodestein. „Der Sage nach hat dort im Wald ein armer Waldarbeiter eine Frau um ein Stück Brot gebeten. Die soll aber gesagt haben, dass ihre drei Brote lieber zu Stein werden sollen, als dass sie ihm einen Bissen abgeben würde.“ Da wuchsen die Brote zu riesigen Steinen und begruben die Frau unter sich. Mit ein bisschen Fantasie kann man die steinerne Frau samt Kiepe unter den drei großen Felsblöcken liegen sehen.
Jutta Tieben muss weiter. Bei einer Freundin, die verreist ist, will sie noch schnell die Blumen gießen. Sie wirft einen letzten Blick vom Glockenturm hinab auf die „Kleine Kapelle“ . Dann macht sie sich an den Abstieg, zurück in die Stadt.
Ihr Edmund Deppe