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Wissen, Watte und Scheinriesen

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Wie Inklusion am Gymnasium Marienschule in Hildesheim umgesetzt wird

Acht von 900: Soviel Inklusionsschüler besuchen zurzeit das Gymnasium Marienschule. Klingt wenig. Aber sie verändern die Schule. Zum Besseren. Für alle.

Mittendrin: Lea in ihrer Klasse, der 7D im Gymnasium Marienschule. Sie gehört dazu – ganz selbstverständlich. Fotos: Wala

Mittwochmorgen, Klasse 7D: Doppelstunde Mathe. Thema: Gleichungen mit einer Unbekannten. Mathematisches Grundwissen und Alptraum ganzer Schülergenerationen.

Hausaufgaben werden kontrolliert. Mathematik- und Klassenlehrerin Michaela Ottleben ruft zuerst Lea auf. Das hat einen Grund: Lea hat etwas anderes als Hausaufgabe zu bewältigen gehabt. Die 14-Jährige hat Schwierigkeiten beim Lesen, beim Rechnen, beim Lernen. Manchmal auch beim Wahrnehmen ihrer Umwelt. Früher hätte sie einen Stempel bekommen: behindert – mit allen sozialen Folgen. Heute gehört sie ganz selbstverständlich zur Klasse 7D.

Manchmal andere Aufgaben, manchmal mehr Hilfe

Der pädagogische Fachbegriff dafür: Inklusion. Das funktioniert im Unterricht ab und zu mit anderen Aufgaben. Oder mit zusätzlicher Hilfe: Lea steht eine Unterrichtsbegleiterin zur Verfügung, ein Anspruch aus dem Sozialgesetzbuch. Aber ihre Begleiterin hält sich jetzt zurück und bleibt in der Ecke sitzen.
Lea erläutert ihre Hausaufgabe. Erst ein bisschen stockend, dann flüssig. Mathematische Wege zu erklären ist nicht so einfach. Lea hat unterschiedliche Zahlen in ein Verhältnis setzen und andere Zahlen dazufügen müssen, um auf das gleiche Ergebnis zu kommen. Das ist die Vorstufe, um Gleichungen ausrechnen zu können.

Jetzt geht es um das Lösen von Gleichungen des Typs „a · x + b = c“. Schwierig, das x steht für eine unbekannte Zahl, die ermittelt werden muss. Herzstück jeder Gleichungsaufgabe. Michaela Ottleben lässt einen Aufgabenzettel verteilen.

Eine Waage ist zu sehen. In der einen Schale drei Ziegelsteine und drei Kugeln, in der anderen 15 Kugeln. Die Waage ist im Gleichgewicht. Die Frage also: Ein Ziegelstein entspricht wie vielen Kugeln? Im Unterrichtsgespräch nähern sich die Schüler der Lösung an. Auch Lea mischt mit. Später bekommt sie weniger Übungsaufgaben als ihre Mitschüler. Aber es ist der gleiche Stoff, den sie sich erarbeiten muss, zum Teil mit Unterstützung ihrer Einzelfallhilfe. Eine Aufgabe rechnet sie auch an der Tafel vor. Souverän.

„Lea bringt sich viel in den Unterricht ein, zum Teil auch mit unorthodoxen Ideen“, sagt Lehrerin Michaela Ottleben nach der Doppelstunde. Sicher, es koste mehr an Vorbereitung für Lea ein anderes Arbeitspensum zu entwickeln. Aber das hat für die Gymnasiallehrerin „den Blick auf das Unterrichtsgeschehen verändert und erweitert“.

Michaela Ottleben ist nicht die einzige Lehrerin im Kollegium, die diese Erfahrung gemacht hat. „Natürlich gab es große Skepsis, als wir uns vor sechs Jahren auf den Weg in Sachen Inklusion gemacht haben“, berichtet Konrektor Klaus Neumann, stellvertretender Leiter der Schule. Manche Bedenken haben sich als „Scheinriesen“ erwiesen, andere ist die Schule durch Beratung, Konzeption und Fortbildung konsequent angegangen. Und durch Neueinstellungen.

Zwei zusätzliche Stellen für Sonderpädagogen

„Uns stehen zwei Sonderpädagogen in Vollzeit zur Verfügung“, sagt Neumann. Sie unterstützen die Fachlehrer bei der Unterrichtsvorbereitung, erstellen Klassenarbeiten, hospitieren im Unterricht und geben Rückmeldung. Zudem kümmern sie sich um die Einzelförderung. So haben beispielsweise geistig behinderte Schüler Anspruch auf fünf Stunden Förderung pro Woche: „Da wird am Stoff weitergearbeitet, Referate werden vorbereitet oder zusätzliche Übungen gemacht“, berichtet Neumann.
 

Keine Ausnahmen: Auch Lea muss eine Aufgabe an der Tafel vorrechnen. Souverän.

„Inklusion im gymnasialen Zusammenhang“, so nennt der Pädagoge die Faustformel in der Marienschule. Das heißt konkret:  „Es geht nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um eine Horizonterweiterung.“ Und um soziale Teilhabe: „Manche Kinder können in Mathematik nicht den Zahlenraum von 20 überschreiten, aber sie dürfen deswegen nicht ausgeschlossen werden.“ Neumann ist davon beeindruckt, welche Entwicklung die Inklusionsschüler an der Marienschule genommen haben. Zurzeit sind es  acht – unter 900 Schülern insgesamt.
Jetzt werden die Erfahrungen an der Marienschule mit der Inklusion erfasst und ausgewertet. Stichwort soziale Teilhabe: Für den Leiter der Hauptabteilung Bildung im Generalvikariat, Dr. Jörg-Dieter Wächter, gehört es zum Grundauftrag der katholischen Schulen, sich auch um die Schüler zu kümmern, die es schwerer im Leben haben. Die Teilhabe an Bildung darf nicht durch die soziale oder ethische Herkunft beeinträchtigt sein.

Gerade die Marienschule habe eine lange Tradition, sich um Benachteiligte zu kümmern – nämlich Mädchen. „Für Mädchen war lange Zeit höhere Bildung nicht vorgesehen“, bringt Wächter in Erinnerung. Hier habe die Marienschule schon früh Bedeutendes geleistet. „Inklusion ist die Fortsetzung dieses Weges“, betont Wächter. Nun richte sich der Blick wiederum auf diejenigen, die die Gesellschaft über viele Jahrzehnte von höherer Bildung ausgeschlossen hat.

Wächter gibt zu: „Auf den ersten Blick scheint der Gedanke von gymnasialer Bildung für lern- oder geistig behinderte Schüler etwas schräg.“ Doch genau betrachtet sei er konsequent. Zum Beispiel aus lerntheoretischen Gründen: „Wissenschaftlich ist belegt, dass wir am besten in möglichst heterogenen, also von der Zusammensetzung her unterschiedlichen Gruppen lernen.“

Wichtig sind für Wächter pragmatische Lösungen: „Wir müssen immer abwägen zwischen größtmöglicher sozialer Teilhabe und bestmöglicher Förderung eines Kindes.“ Denn bei allem Anspruch an Inklusion: „Das Wohl des Kindes steht immer im Vordergrund.“

„Ich fühl mich einfach wohl hier“

Und wie geht es Lea in der 7D? „Ich fühl mich wohl hier“, sagt sie – mit Nachdruck. Mit vier ihrer Mitschülerinnen verbringt sie viel Zeit. „Das sind echte beste Freundinnnen.“ Lea findet es auch nicht schlimm, dass sie manchmal andere oder weniger Aufgaben bekommt: „In manchen Situationen bin ich halt nicht so schnell.“ Und nervt es Mitschüler, wenn etwas für sie erneut erklärt werden muss?  „Nein, das hilft uns auch – und wie“, ergänzt Paula, eine der vier besten Freundinnen. Ein weiteres Beispiel, eine anschaulichere Darlegung – davon profitieren alle Schüler der 7D. Im Prinzip lernt Lea das Gleiche wie Paula und alle anderen Mitschüler. Das ist ihr wichtig. Genauso wie gleich behandelt zu werden. Lea will nicht in Watte gepackt werden: „Nein, das gefällt mir nicht.“ Auch wenn das bedeutet, mal angeraunzt zu werden. Wie alle anderen.

Das Beispiel folgt auf dem Fuße: „Lea, mach hin, sonst ist die Pause gleich vorbei“, ruft Paula. Energisch. Wie bei allen anderen. So wird Inklusion was ganz Normales.

Rüdiger Wala


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