„Ich? Berufen? Jeder andere ist berufener und vor allem würdiger als ich!“ Die Propheten des Alten Testaments erhalten eher einen Preis im Zurückweichen, als dass man sie von der vordersten Front zurückpfeifen müsste. Auch Jesaja. Erst, als seine Schuld von göttlicher Seite getilgt wird, ist er bereit: „Hier bin ich, sende mich!“
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Um Obdachlose an ihren Aufenthaltsorten medizinisch zu versorgen, sind in vielen Städten - hier zum Beispiel in Berlin - Arztmobile unterwegs. Auch Ulrich Graeber war oft in einer rollenden Praxis im Einsatz. Foto: kna-bild |
„Hier bin ich, sende mich?!“ In seiner geraden und humorvollen Art wischt Ulrich Graeber die Frage, ob er sich gesendet fühlt wie Jesaja, vom Tisch. „Nein, überhaupt nicht! Letztlich ist man gepolt von zu Hause. Da gab’s die Devise, sich um seinen Nächsten zu kümmern. Und das haben wir mit purer Selbstverständlichkeit erledigt.“
83 Jahre ist der ehemalige Chefarzt der Inneren des Krankenhauses Alzey inzwischen alt – und hilft noch immer. So behandelt er ehrenamtlich Obdachlose in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz. Nebenbei versucht er gerade, Patenschaften mit Flüchtlingsfamilien einen Weg zu bahnen, selbst betreut er seit Jahren eine junge Asylantin. „Den Märchenonkel hab ich auch im Kindergarten gegeben“, ergänzt er. Und mit drei Witwern hat er – nach dem Tod seiner Frau – einen kleinen Kochverein ins Leben gerufen.
Dem Nächsten helfen als „Erledigung“, als „pure Selbstverständlichkeit“? Wie Graeber das meint, und zwar keineswegs als Pflichtprogramm, wird deutlich, als er aus seinem Leben und der Kindheit erzählt. „Dorfmilieu, normale Erziehung und in Freiheit dressiert. Und das alles in der Zuwendung zum Mitmenschen“, bringt er seine Kindheit auf den Punkt, die er in einem evangelischen Pfarrhaus verbrachte, denn sein Vater war Pfarrer im Westerwald. „Und natürlich wurde von den Dörflern sehr darauf geschaut, wie wir uns einbrachten, oder ob wir meinten, etwas Besseres zu sein, was aber nicht der Fall war. Die Folge war, dass wir Kinder voll integriert waren und von unseren Eltern in ziemlicher Freiheit laufen gelassen wurden.“
Er kennt die Perspektive des Patienten gut
Zu dieser Toleranz passt das Engagement des Vaters in der Bekennenden Kirche. „Er hat maßgeblich an der Barmer Erklärung mitgewirkt und natürlich hatten wir auch Besuch von der Gestapo.“ Die innere Haltung zu Hause stand im Gegensatz zur politischen Linie des Dritten Reichs, was zu einem ziemlichen Zwiespalt und der Fähigkeit führte, „diplomatisch sensibilisiert zu sein“, zumal er, wie seine Geschwister auch, in der Hitlerjugend war. „Daher kommt es wohl“, so Graeber, „dass ich ziemlich gut mit Menschen umgehen kann, vermitteln und Spannungen ausgleichen.“
Graeber studierte Bergbau, denn „mit meinem Stundenlohn im Bergbau – zur Ausbildung gehörte auch ein Jahr unter Tage – würde ich mir ein Motorrad, eine Horex, kaufen können“. Allerdings wurde er nach nur drei Monaten verschüttet und nahm „sehr lange die Patientenperspektive“ ein. Danach war Bergbau keine Option mehr und er studierte Medizin.
Mit einer solchen Vita, Verschmitztheit und Wachheit hätte man ihn sich gut auch im Auslandseinsatz vorstellen können. „Nein, das kam nie infrage. Meine Frau, die einige schwerere Krankheiten hatte, hat gesagt: ,Du haust nicht ab, ich habe Angst, wenn du nicht um mich bist.‘ Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich einer Aufgabe im Ausland gewachsen sein würde. Ich hab mich dem zugewendet, was mir vor die Füße fiel.“
Ein Dankeschön bekommt er immer
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Ulrich Graeber Foto: Sibylle Brandl |
So war es auch mit dem Projekt seines damaligen Assistenzarztes Gerhard Trabert, der begann, Sprechstunden für Wohnungslose einzurichten. „Wer macht denn eigentlich die Sprechstunde, wenn du Urlaub hast?“, fragte er ihn. Die Sprechstunde wäre ausgefallen und so machte Graeber Urlaubsvertretung – und blieb dabei. Bis vor wenigen Jahren war er auch mit dem Arztmobil unterwegs, um Obdachlose an ihren Aufenthaltsorten aufzusuchen.
Ist es wirklich nur Neugierde und Interesse, nicht ein innerer Drang, ein „Ruf“, sich zu kümmern? Sein Leben und seine Eltern haben ihn zu dieser inneren Haltung gebracht, und der ist er gefolgt. „Ich bin halt beschenkt und geeignet, ein Mensch, der um sich guckt und ein Grundgefühl an Harmonie braucht. Ich bin nicht glücklich, wenn unglückliche Menschen um mich sind. Dann versuche ich, die Ursache dahinter zu beseitigen.“
Und er geht dem nach, was er neben dem Erzählen meisterhaft kann – zuhören. Dreiviertel seiner Diagnose stellt er aufgrund des Gesprächs. „Zeit nehmen, Vertrauen aufbauen, sich in die Augen sehen und eine emotionale Brücke aufbauen.“
„Und ich kriege immer ein Dankeschön, das freut mich, da bin ich ganz egoistisch“, meint er augenzwinkernd. Man muss also nicht wie Jesaja den Himmel offen sehen, es ist schon eine Sendung, offen in die Welt und in die Augen der anderen zu sehen.
Von Sibylle Brandl