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Zeit ist kein Maß für Seriosität

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Interview mit Dr. Bernd Deininger über sexuellen Missbrauch

Der Arzt und evangelische Theologe Dr. Bernd Deininger therapiert seit fast 25 Jahren katholische Geistliche. Für die Kirchenzeitung erklärt er, wie ein Mensch zum Täter wird und warum es wichtig ist, die Opfer zu stützen.

Der ehemalige Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen, soll einen Jungen über mehrere Jahre hinweg schwer sexuell missbraucht haben. Viele der ehemaligen Weggefährten sind schockiert. Hätten sie nicht etwas merken müssen? Wie konnte er nach außen hin ein ganz normales Leben als Bischof führen?

Gerade Kleriker setzt an sich selbst so hohe moralische und ethische Ansprüche, dass die Scham bei einem Fehltritt extrem massiv sein kann. Das kann sogar so weit gehen, dass Erinnerungen komplett aus dem Gedächtnis gelöscht werden oder mit einer sogenannten „Deck- Erinnerung“ an ein schönes Erlebnis ummantelt werden. Es gibt Mädchen, die den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater so tief ins Unbewusste gedrückt haben, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können. Denn der Vater muss ja ein guter Mensch gewesen sein. Auch ein Bischof kann als Täter die Taten soweit ins Unbewusste drücken, dass er sich selbst nicht mehr bewusst daran erinnern kann und nach außen ein normales Leben führen kann. Er wird dann vielleicht andere Symptome körperliche oder seelischer Natur gehabt haben. Zum Beispiel eine Körperkrankheit wie Durchfall, sehr starker Bluthochdruck oder eine Herzkrankheit. An psychischen Krankheiten kommen Depressionen, Panikattacken und Schmerzkrankheiten oft vor, wenn Täter ihre Taten verdrängen. So oder so muss der Preis für das Verdrängte, egal ob vom Täter oder Opfer, immer bezahlt werden. Viele meiner Patienten, die Kleriker sind und sexuell übergriffig waren, kommen nicht wegen dem sexuellen Missbrauch zu mir in die Klinik. Sondern wegen Depressionen oder Panikattacken. Erst nach einigen Monaten Behandlung stoßen wir dann auf die verdrängten Erinnerungen.

Manche kritisieren, dass sich das Opfer erst jetzt nach so langer Zeit gemeldet hat. Der Bischof ist tot und kann sich nicht mehr wehren. Es gehe dem vermeintlichen Opfer nur um Geld und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

Die Zeitspanne, nach der sich ein Opfer meldet, sagt gar nichts über die Seriosität der Vorwürfe aus. Zum Beispiel begeben sich auch erst 70 Jahre nach dem Krieg Kriegskinder jetzt bei mir in Behandlung und erzählen von ihren Traumata. Vieler meiner Patienten trauen sich erst dann zu sprechen, wenn die Täter verstorben sind, weil sie dann nicht mehr mit dem Täter direkt konfrontiert werden können. Die Scham ist sehr groß. Gerade bei diesem konkreten Fall in den 50er und 60er Jahren war es zu der Zeit schwierig, sich der Familie oder anderen anzuvertrauen. Früher wurde Vergewaltigungsopfern Vorwürfe gemacht, sie hätten es provoziert. Für die Familien war ihr Ruf in der Öffentlichkeit wichtiger als heute. Die Opfer wussten, dass sie keine Solidarität zu erwarten hatten. Das ist zum Glück heute anders. Ich sehe keinen Grund an den Schilderungen des Opfers zu zweifeln. Es ist kaum möglich, sich eine konsistente Missbrauchsgeschichte auszudenken. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass es noch mehr Opfer von sexuellen Übergriffen durch den Bischof gegeben hat. Eigentlich ist die Triebkraft bei sexuellen Übergriffen nämlich zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahr am Größten. Ich gehe daher davon aus, dass das nur die Spitze des Eisberges ist.

Wie ist ein Mensch überhaupt dazu fähig, einem anderen so etwas anzutun? Noch dazu einem Kind, das der eigenen Fürsorge anvertraut ist?

Dr. Bernd Deininger ist als Psychoanalytiker auf den Bereich der Therapie von sexuell übergriffigen Klerikern spezialisiert. Foto: MVZ/ Pegnitz

Ich habe in all meinen Jahren Berufserfahrung kaum Täter kennengelernt, die nicht zuerst auch Opfer gewesen sind. Es gibt Ersttäter, die zwar selbst keinen Missbrauch erlebt haben, aber in ihrer Entwicklung in einem kindlichen Stadium stehen geblieben sind. Sie können sich keine „erwachsene“ Beziehung vorstellen oder zutrauen, weil sie sich innerlich wie Kinder fühlen und auch nur von Kindern verstanden fühlen. Diese Form der Pädophilie ist therapierbar. Eine andere Form der Pädophilie ist so zu verstehen, dass sie genetisch angelegt ist und deshalb nur bedingt zu therapieren ist. Diese Form trifft aber nur auf etwa 10 Prozent der Fälle zu. Der Rest, fast 90 Prozent, war selbst Opfer sexueller Gewalt in der Kindheit – bei den meisten spielt auch Inzest eine große Rolle. Ich habe zum Beispiel gerade einen Pater in Behandlung, der ab seinem fünften Lebensjahr immer wieder durch seinen älteren Bruder anal penetriert wurde. Bei einem anderen Fall vermutete der Täter, dass er der Sohn seines Großvaters war, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Er hatte keine konstante Bezugsperson bis auf eine Tante, die ihn aber – wie er später feststellte – als Schutzschild gegen sexuelle Übergriffe durch den Großvater missbrauchte. Solche Dinge passieren nur in Familien, in denen die Mitglieder untereinander in ihrer Beziehung stark beeinträchtigt sind und darum emotionslos miteinander umgehen.

Trotzdem wird nicht jedes Opfer später auch ein Täter. Gibt es psychologische Erklärungen, wie ein solches Verhalten erworben werden kann?

Meist wird eine solche Störung in der frühen Kindheit entwickelt. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um ein Entwicklungsdefizit, das in den ersten fünf bis sechs Jahren nach der Geburt erworben wird. Tritt ein Trauma im Leben eines Säuglings auf, bevor das Kind mit Sprechen anfängt, entwickelt das Kind später einen Selbstwertkonflikt. Und mit Trauma meine ich sexuellen Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung. Es gibt bestimmte Krankheitsbilder, die mit einem solchen Selbstwertkonflikt zusammen laufen können, wie Borderline- Störungen oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Ein Säugling braucht bis zum Spracherwerb eine positiv besetzte, verlässliche Bezugsperson, um sein eigenes gesundes Ich zu entwickeln. Forscher gehen davon aus, dass das Gefühl für das eigene Ich zusammen mit der Sprachfähigkeit entsteht und darum diese Phase miteinander zusammenhängt. Die meisten Kleriker, die sexuell übergriffig geworden sind, haben einen Selbstwertkonflikt. Nach dem Spracherwerb beginnt die sogenannte „orale Phase“, in der das Kind sich von der einen positiv besetzen Figur in seinem Leben unabhängig macht und andere Personen entdeckt. Scheitert dieser Prozess aufgrund der oben genannten Faktoren und ist schon zuvor eine Schädigung eingetreten, kann ein Autonomie- Abhängigkeitskonflikt in der Psyche des Kindes entstehen. Süchte, Depressionen und Essstörungen haben oftmals hier ihre Wurzeln. Die meisten Täter, die ich therapiere, weisen häufig einen ungelösten Autonomie- Abhängigkeitskonflikt auf. Darum haben sie sich als Kinder selbst in Abhängigkeitsverhältnisse zu Personen gesetzt, zu denen sie aufblicken konnten. Zum Beispiel als Ministrant zu einem Priester oder in der Schule zu einem Lehrer. Aufgrund der Schädigungen, die sie in den ersten Lebensjahren erfahren haben, bauen sich die späteren Täter Mechanismen auf, die sie lebensfähig machen. Sie tragen diese ungelösten Konflikte mit sich herum und wehren den Konflikt durch Verdrängen ins Unbewusste ab, bis sie in eine Notsituation kommen. Sei es Stress, sei es die direkte Konfrontation mit ihrem Täter. Ihre Abwehrmechanismen versagen und sie bilden ein Symptom aus. Oft suchen sie als Opfer dann Kinder aus, die ihnen selbst als Kind ähneln

Egal ob Bischof oder Priester: Für viele Kleriker ist Gott, die Liebe zu ihm und der Glaube Lebensinhalt. Wie kann das mit sexuellem Missbrauch zusammen passen?

Viele Täter haben als Kinder erlebt, dass ihre Eltern keine emotionale Beziehung zu ihnen hatten. Ihnen wurde gesagt, dass sie stören. Dass sie abgetrieben werden sollten. Dass die Mutter den ganzen Tag die Treppe rauf und runter gesprungen ist, in der Hoffnung, dass das Kind stirbt. Französische Studien haben gezeigt, dass in einem solchen Fall der Fokus, die Suche nach einem dich liebenden Menschen, nach außen auf einen imaginären Punkt gerichtet werden kann. Eine symbolische Figur, die dich annimmt und liebt. Und für Kleriker ist diese Figur oft Gott, der sie wie ein Vater umarmt und schützt. Oft spüren Menschen, die eine psychische Problematik haben, dies unbewusst und suchen einen Rahmen, in dem sie sich auch als Außenseiter aufgenommen fühlen. Die Kirche gibt diesen Menschen den Raum, weil sie eine starke Integrationskraft hat. Skurrile Typen und Außenseiter werden hier aufgenommen. Ähnlich ist es bei Tierpflegern im Zoo, die ihre Sehnsüchte auf Tiere übertragen. Gott als den eigenen Vater anzusehen, verstärkt die Scham nach einem Übergriff noch einmal. Gerade aufgrund ihres hohen Selbstanspruchs und der Liebe zu Gott, wird die Scham übermächtig.

Hat das Zölibat irgendetwas mit sexuellem Missbrauch zu tun?

Der Hauptfaktor, der zu sexuellen Übergriffen durch Kleriker der Katholischen Kirche führt, ist die psychische Störung, die die Täter haben. Sicherlich macht das Zölibat es schwerer für die Täter, Zugang zu ihrer Triebhaftigkeit zu finden und sich dem zu stellen. Ein Mensch muss meiner Meinung nach die Möglichkeit haben, sich sexuell aktiv verhalten zu dürfen und Sexualität nicht immer nur zu transzendieren. Hat er die nicht, macht es das für ihn schwerer und noch schambehafteter, wenn etwas schief läuft. Aber als Hauptfaktor ist das Zölibat nicht zu begreifen.

Wie leben Opfer nach einem sexuellen Missbrauch weiter, wenn sie nicht selbst zu Tätern werden?

Viele der Opfer werden durch die Taten für den Rest ihres Lebens beziehungsunfähig, erleben Sexualität immer nur destruktiv. Sie können in einer Partnerschaft keine wahre Lebensfreude verspüren und leiden unter Depressionen oder Schmerzkrankheiten. Durch einen therapeutischen Prozess können sich die Opfer dem Erlebten stellen und analysieren, warum sie Opfer geworden sind. Opfer fühlen oft ein extrem großes Schamgefühl, weil sie unbewusst spüren, dass etwas an ihnen der Grund ist, warum sie Opfer geworden sind. Warum wird aus einer Gruppe von 20 Ministranten nur einer Opfer, aber die anderen nicht? Sie denken, dass das ihr Schicksal war und sie kein Recht haben, ihr Leid nach außen zu tragen. Viele halten darum jahrzehntelang still und sagen nichts. In der Analyse stellt sich dann heraus, dass besonders oft Kinder Opfer geworden sind, die schon vor dem Missbrauch dazu geneigt haben, destruktiv zu sein oder sich zu unterwerfen und an Autoritäten zu glauben. Sie äußern dann oft, dass sie sich auch schon immer, ähnlich wie die Täter, selbst als Außenseiter gefühlt haben.

Das Bistum Hildesheim versucht durch ein umfangreiches Schulungsprogramm sexuellen Missbrauch in kirchlichen Strukturen durch haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter zu verhindern. Wie kann man ihrer Meinung nach dieses Ziel erreichen?

Ich plädiere dafür, dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie für manche Berufsgruppen Pflicht sein sollte. Kleriker, Pädagogen und Polizisten sind Berufsgruppen, bei denen ich das für sinnvoll halten würde. Prävention muss dahin gehen, dass in „Erst- Interviews“ und Gruppensitzungen alle Priesteramtskandidaten sich zunächst mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzen. Bei einer Untersuchung mit elf angehenden Priestern wurde herausgefunden, dass nur zwei von ihnen ohne frühkindliche Störungen waren und als nicht auffällig betrachtet werden können. Arbeitet man diese frühkindlichen Störungen auf, kann man sich von den Defiziten befreien. Auf rund 60 Fälle von sexuell übergriffigen Klerikern, die ich therapiert habe, kommen bisher nur zwei Rückfälle.

Fragen: Marie Kleine

 

Zur Person:

Dr. Bernd Deininger (Jahrgang 1946) ist Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Martha- Maria in Nürnberg und als Psychoanalytiker auf den Bereich der Therapie von sexuell übergriffigen Klerikern spezialisiert.


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