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Das Experiment geht weiter…

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Interview mit Dr. Christian Hennecke

7296 Menschen aus dem Bistum Hildesheim sind im vergangenen Jahr aus der Kirche ausgetreten. Seit 1990 hat die Diözese fast 20 Prozent ihrer Gläubigen verloren. Für den neuen Leiter der Hauptabteilung Pastoral, Dr. Christian Hennecke, sind die aktuellen Zahlen keine Überraschung. 

Noch nie war die Zahl der Menschen, die aus der Kirche austreten, so groß – was bedeutet diese Entwicklung für die Seelsorge? Verwaltung eines Misstandes?

Nicht nur die Katholikenzahl insgesamt ist zurückgegangen, sondern auch bei den persönlichen kirchlichen Ereignissen ist ein Rückgang zu verzeichnen.

Seit 50 Jahren sinkt die Bindung an kirchliche Vollzüge – unabhängig vom Zweiten Vatikanischen Konzil, von Päpsten, Bischöfen und Priestern. Wir stehen in einem tief greifenden Wandel. Das lässt sich vor allem an den Zahlen des Mitfeierns der Eucharistie am Sonntag beschreiben

Von 17,6 Prozent im Jahr 1990 auf 8,4 Prozent aktuell.

Richtig und 1960 waren wir bei weit über 30 Prozent. Wir verstehen das oft als vermeintlichen Abfall vom Glauben. Ganz so einfach ist es aber nicht. Zwei Punkte gebe ich zu bedenken. Zum einen: In den 1960er-Jahren war es üblich und normal zur Kirche zu gehen. Bei denen, die in katholischen Milieus groß geworden waren, galt die Sonntagspflicht. Ob man glaubte oder nicht: man ging. Heute ist der Kirchgang eine bewusste Entscheidung. Die 8,4 Prozent der Christen feiern die Eucharistie mit, weil sie es wollen und nicht, weil sie es müssen. Ich erlebe in Gottesdiensten noch mehr als früher, dass die Mitfeiernden wirklich Hunger haben nach dem Wort Gottes und nach einer nährenden Feier der Eucharistie. Das hat eine andere Qualität und fordert uns heraus, uns engagierter um die Tiefe unserer Feiern zu mühen.

Ihr zweiter Punkt?

Für uns alle gilt, dass wir heute unsere eigenen Entscheidungen sehr differenziert fällen. Viele Menschen, die keinen Zugang zur Eucharistie haben, suchen andere Wege, andere Gottesdienstformen, um ihren Glauben zu leben. Wer genau hinschaut, dem wird sehr augenfällig, wie viele Menschen an Gottesdiensten unterschiedlichster Art sehr bewusst teilnehmen. Auch das ist eine bemerkenswerte Entwicklung.

Die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt, die der Anmeldungen in katholischen Kitas nicht – trotz weniger getaufter Kinder. Was macht die Caritas da anders als die Pastoral?

Zunächst einmal: Caritas ist Pastoral. Wohlfahrt und Kirche sind keine getrennten Säulen. Grundsätzlich ist ja klar, dass Eltern das Beste für ihre Kinder suchen. In katholischen Kindergärten und Schulen finden sie nicht nur eine wirklich gute Erziehung und Bildung. Sie erfahren auch oft ein tolles Zeugnis des Christentums. Nicht weil überall Bibelsprüche an der Wand hängen, sondern weil die Atmosphäre in den Einrichtungen das Evangelium bezeugt. Und wo so Gemeinschaft gelebt wird, gebetet und gefeiert, Nächstenliebe eingeübt wird – lebt da nicht auch „ein starkes Stück Kirche“?

Lokale Kirchenentwicklung, Leitungsteams, missionarische Pastoral in größeren pastoralen Räumen – wird den Gemeinden nicht zu viel zugemutet?

Lokale Kirchenentwicklung ist kein Kurzzeitprozess. Das ist ein langer Weg, den wir alle mitei­nander gehen: Gemeinden, Priester und Bischöfe. Es geht ja um einen Bewusstseinswandel. Kirche neu zu leben in einer postmodernen Welt, das ist eine stetige Herausforderung – vor allem an vielen Stellen umzudenken und zu prüfen. Haben sich Dinge bewährt? Wie können wir sie fortführen? Oder fordert uns unser Umfeld zu ganz neuen Wegen heraus? Solche Umkehrprozesse sind immer eine Zumutung.

Einer der wesentlichsten theo­logischen Grundsätze im Bistum ist die gemeinsame Würde aller Getauften. Was braucht es hier an weiteren Impulsen?

Dr. Chris­tian Hennecke ist seit April Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Generalvikariat.

Wir wollen die Verantwortung der Getauften stärken. Im Blick auf alle Erfahrungen der Weltkirche drängt sich das auf und es ist ja die innere Dynamik des II. Vatikanums, die heute stärker denn je in den Blick rückt: Laien sind nicht der verlängerte Arm des Klerus, sondern sind Mitträger der Pastoral von ihrer Taufe her. Der Geist Gottes, der durch die Kirche geht, macht eines deutlich: Wir brauchen noch mehr eine Kirche der Beteiligung, die sich den neuen Herausforderungen stellt. Aber was das konkret bedeutet – da stehen wir alle, das ganze Volk Gottes, aber auch Priester und Hauptamtliche, erst am Anfang eines langen Lernprozesses.

Hat dieser langsame Lernprozess auch etwas mit unterschiedlichen Betrachtungen zu tun – zum Beispiel, was Ehe und Familie betrifft? Warum wirkt die Kirche da so rückständig?

Das kommt auf die Perspektive an. Auf der einen Seite gibt es die Lehre der Kirche, die tief in der Tradition und in den Werten des Evangeliums eingründet. ­Wir vertreten da oft hohe Ideale und Werte, die – so zeigte es auch unsere Umfrage vor der ersten Familiensynode – auch geteilt werden. Sie entsprechen der Sehnsucht nach heiler Liebe, die Menschen in sich tragen. Was diese Lehre nicht reflektiert, das ist das zerbrechliche und gebrochene Leben, das sind die Weggeschichten der Menschen. Ich glaube, dass wir mit Papst Franziskus mehr diese Weggeschichte eines jedes Menschen, seine Suche nach Leben, in den Fokus rücken sollten. Papst Franziskus spricht da von Barmherzigkeit: Christus, der für uns alle alles gegeben hat, begleitet jeden Menschen auf seinem Weg. Er urteilt nicht, er liebt und geht mit. Und genau das kennzeichnet auch die Haltung vieler Christen unseres Bistums. Es geht um eine Pastoral des Mitgehens. Das gilt immer. Zu jeder Zeit. Und ich denke nicht, dass es früher ungebrochene, heile und bessere Zeiten gab – auch nicht für die Familie.

Die Zeiten waren anders, aber nie besser?

Genau. Ähnlich steht es bei Kohelet: „Doch frag nicht: Wie kommt es, dass die früheren Zeiten besser waren als unsere? Denn deine Frage zeugt nicht von Wissen.“ Ich frage: Wann soll dieses goldene Zeitalter der Familie gewesen sein? Heutzutage kommen die Gebrochenheiten stärker an das Licht. Unsere Kirche wusste schon immer um sie und Rigorismus ist nie unser Weg gewesen. Uns geht es um Beziehung und Begleitung. Es geht darum, jeden Menschen auf diesem Weg zum Heil zu begleiten Das ist der Auftrag Jesu Christi.

Wie wird das die Seelsorge im Bistum Hildesheim in zehn Jahren beeinflussen?

Was wir als Christen mit Überzeugung und Leidenschaft tun, das hat Zukunft. Wenn sich Menschen in Familienkreisen oder Verbänden engagieren, ist das super. Gottes Geist weht, er wird sie weiter bewegen und voranbringen. Zugleich sind wir in einem Wandlungsprozess. Um ehrlich zu sein: Es sieht nicht so aus, dass junge Menschen in klassischen Kirchengemeinden ihr Zuhause finden. Die Prägungen jeder Generation sind durchaus sehr anders. Und die Art und Weise Christen zu werden und Christsein zu leben wandelt sich. Es wachsen neue Formen von Gemeinschaft, die anders und ungewohnt sind. Das ist schon im Gang – und es wird eine größere Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Gemeindeformen geben. Das ist eine Aufgabe, dafür Raum zu schaffen und es zu ermöglichen. Das braucht einen Mentalitätswandel. Die Pfarrei ist dann eine Gemeinschaft von Gemeinden – sie bleibt institutionelle  und sakramentale Grundgestalt unserer Kirche. Aber in ihr erwarte ich eine neue und bunte Vielfalt. Wer genau hinschaut, der kann das schon sehen: Beim Kongress Kirche2 war das erlebbar und sichtbar.

In vielen Teilen des Bistums ist das katholische Leben weiterhin eher „volkskirchlich“ geprägt: Gottesdienst, Familienkreise, Katechese. Welche Hilfen brauchen sie?

Alles, was wir als Christen tun, hat seinen Sinn. Wenn sich Menschen in Familienkreisen oder Verbänden engagieren, ist das super. Gottes Geist weht in ihnen, er wird sie bewegen. Trotzdem sind wir in einem Wandlungsprozess. Um ehrlich zu sein: Es kann doch keiner glauben, dass junge Menschen in klassischen Kirchengemeinden ihr Zuhause finden. Es wachsen neue Formen von Gemeinschaft, die anders sind. Es wird weiterhin eine institutionelle  und sakramentale Grundgestalt unserer Kirche geben. Aber alles andere ist keine Frage der Struktur, sondern eine, wie wir Gemeinschaft in Christus erfahren.

Was heißt das konkret?

In der anglikanischen Kirche nennt man diese Entwicklung „mixed economy“ – gemischte Wirtschaft; das Miteinander von gewachsenen und neuen Gemeindeformen. Das traditionelle Bild, das wir von Kirche haben, wird aufgebrochen. Es gibt nicht nur die „eine“ Gemeinde, die alle „integrieren“ muss und in die sich alle „integrieren müssen“. Mir kommt ein Bild. Kirche ist am ehesten mit einem Mischwald zu vergleichen: Neben dicken Bäumen brechen neue Pflanzen auf, von denen wir nicht einmal wissen, wie sie aussehen werden. Das braucht Neugierde und die Möglichkeit zum Ausprobieren. Dem muss Seelsorge einen Rahmen bieten. Ich habe nicht den Eindruck, dass in unserem Bistum dazu der Mut fehlt – im Gegenteil, von den Gemeinden angefangen bis zum Diözesanrat erlebe ich hier größer werdende Offenheit. Insofern wird das „Heilige Experiment“, das Leitwort unseres Bistumsjubiläums, nicht am Fest Christ König enden. Wir stehen da erst am Anfang. Das Experiment geht weiter.

Interview: Rüdiger Wala


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