„Ach, könnten Sie mal eben ...“: Hilfen von Wohnungstür zu Wohnungstür oder übern Gartenzaun sind nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Jetzt springen vermehrt organisierte Nachbarschaftshilfen ein. Auch in den kleinen Städten und Dörfern wie in und um Duderstadt.
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So als ob es die eigene Nachbarin wäre: Gut einmal im Monat schaut Karola van Almsick (links) beim Ehepaar Bärbel und Hans-Peter Ronski vorbei. Zum Reden, zum Zuhören und Zeit haben. Foto: Wala |
Damit kein falscher Eindruck entsteht: „Nein, ich glaube nicht, dass Hilfsbereitschaft generell abgenommen hat“, sagt Karola van Almsick. Sie ist Mit-Organisatorin des Nachbarschaftshilfe-Projekts „Nächstenliebe“ in Duderstadt.
Die Kreisstadt im Süden Niedersachsen hat gut 21 000 Einwohner – davon 9000 in der Kernstadt und 12 000 in 14 umliegenden Dörfern. Da müsste eigentlich jeder jeden kennen. „Das ist häufig auch so“, bestätigt Karola van Almsick, die selbst eine „Zugezogene“ ist: „Aber schauen Sie sich doch mal um.“
Wir stehen in einer Seitenstraße in Westerode, früher eigenständig, jetzt ein Ortsteil von Duderstadt, 900 Jahre alt, 1000 Einwohner, weithin sichtbar der Turm der katholischen Kirche St. Johannes Baptist. Um uns herum Einfamilienhäuser, alle in den 1960er-Jahren gebaut. Vergleichsweise große Grundstücke, Häuser und Gärten sind gepflegt. Aber niemand ist auf der Straße. Nur der Wagen des ambulanten Pflegedienstes fährt vorbei.
„Das ist ziemlich symptomatisch: Die Kinder sind weggezogen, die Menschen hier sind alt geworden“, sagt Karola van Almsick. Manchmal zu alt, um die fünf Treppenstufen von der eigenen Haustür runter und die 20 Schritte zum Nachbarn zu gehen. Zum Klönen, auf eine Tasse Kaffee.
Auch Reden und Erzählen ist Nachbarschaftshilfe
Genau das macht Karola van Almisck heute. Sie besucht die Eheleute Ronski – Hans-Peter, 75 Jahre alt, und seine zwei Jahre jüngere Frau Bärbel. Alteingesessen, beide haben in diesem Jahr goldene Hochzeit gefeiert. 1967 wurde das Haus gebaut, in dem die beiden heute noch wohnen und ihre zwei Kinder aufgezogen haben. So weit, so normal. Heute lebt der Sohn in Stuttgart. Die Tochter ist eigentlich nahebei – im thüringischen Teil des Eichsfeldes. Aber ihr Alltag wird von Schichtdienst bestimmt – auch zu den hohen Fest- und Feiertagen. So weit, auch so normal.
Die Ronskis haben ihr Leben lang hart gearbeitet und eine Gärtnerei aufgebaut. Auch mit seinen 75 Jahren ist Hans-Peter Ronski noch dabei – zuletzt vor Weihnachten. „Die Tannenbäume, die sich die Leute ins Wohnzimmer stellen, müssen ja irgendwo herkommen“, sagt er und lächelt. Schlagen, transportieren, verkaufen – wieder harte Arbeit.
Bärbel Ronski hat ihr Leben lang mit Krankheiten zu kämpfen: „Das fing schon als Kind an.“ Immer schwerwiegender wurde es, seit mehreren Jahren ist sie bettlägerig.
Ihr Krankenlager ist im Wohnzimmer aufgebaut, im Hintergrund die große Fototapete mit Gebirgssee und Berg, sie selbst blickt durch die großen Fenster in den Garten. Und auf zwei Dinge, die eine große Bedeutung für die Eheleute haben – das Hochzeitsbild und ein Holzkreuz. Das Kruzifix zeigt nicht nur den Heiland, sondern auch zwei weitere Figuren, die unter dem Kreuz stehen – vielleicht Maria und den Jünger, den Jesus liebte, wie es das Johannes-Evanglium (19, 26) erzählt. Für Bärbel Ronski ist dieses Kreuz „ein Stück Hoffnung“. Aufbauend.
Das sind für sie auch die Besuche von Karola van Almsick. Hans-Peter Ronski brüht Kaffee, heute setzt er sich mal dazu. Bei anderen Besuchen erledigt er Arbeiten im Haushalt. Sorgsam hat er den Kaffee für seine Frau in einen Schnabelbecher gefüllt, die Temperatur geprüft und reicht ihn ihr immer wieder an.
Von Tauben füttern bis Berlin-Besuche
Man plaudert. Vor Weihnachten war Bärbel Ronski in der Kurzzeitpflege. Keine gute Erfahrung. Die Zimmernachbarin, das Essen ... Fast zwei Stunden wird erzählt: Von den Feiertagen, Geschichten aus dem Familienleben. Zum Beispiel: Schafe. Von denen haben die Ronskis immer wieder kleine Herden gehabt. Es ist, als ob die Nachbarin zum Klönen vorbeigekommen sei.
„So soll es auch sein mit der Nachbarschaftshilfe“, sagt Karola van Almsick. Nur, dass sie hier ‚organisiert‘ ist. Einsamkeit, das Fehlen von kleinen Hilfen – all das hat 2014 dazu geführt, dass sich in Duderstadt Engagierte zum Projekt „Nächstenliebe“ zusammengeschlossen haben. Die Schirmherrschaft haben die Stadt und die beiden christlichen Kirchen übernommen.
Tauben füttern, Einkaufen, Begleiten zu Behörden und Ärzten, Besuche im Altenheim – „all diese alltäglichen Dinge prägen unsere Arbeit“, berichtet Karola van Almsick. Und manches Nicht-Alltägliche: Zweimal wurde ein 91-jähriger Mann nach Berlin begleitet: „Das hat was mit seinen Lebenserinnerungen zu tun.“ Auch beim Deutschlernen für Flüchtlinge wirkt das Projekt mit. „Wir erleben, dass viele Menschen einfach anderen helfen möchten“, meint Karola van Almsick. Die Hilfsbereitschaft hat nicht abgenommen. Sie ist nur anders geworden. Die „Nachbarn“ kommen nicht mehr unbedingt aus der gleichen Straße.
Rüdiger Wala