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„Er hat sich selbst getroffen“

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Ein Säureanschlag zerstört das Gesicht von Vanessa Münstermann, nicht aber sie selbst

Kurz nach ihrem Geburtstag wird Vanessa Münstermann aus Hannover Anfang des Jahres von ihrem Exfreund durch einen Säureanschlag schwer verletzt und entstellt. Für den Täter bedeutet diese Tat zwölf Jahre Haft. Für das Opfer eine Herausforderung, dem Leben nach der Tat Sinn zu geben.

Vanessa Münstermann, ehemalige Schülerin der Ludwig-Windhorst-Schule,  hat einen neuen Sinn für ihr Leben gefunden und kann nach dem Anschlag ihres Exfreundes mittlerweile wieder lächeln.   Fotos: Kleine

„Katastrophenbraut. Eine Enttäuschung für meine Eltern.“ Auf diese zwei kurzen Sätze reduziert Vanessa Münstermann ihr Leben vor jenem Tag im Februar 2016. Sie ist das Kind einer drogensüchtigen Prostituierten und eines unbekannten Freiers. Gerettet von ihren Adoptiveltern, die sie direkt nach ihrer Geburt aus dem Krankenhaus zu sich holen. Vanessa wächst zusammen mit ihrer drei Jahre älteren Schwester auf, der leiblichen Tochter der Adoptiveltern. Mit zehn Jahren bekommt sie Diabetes Typ 1. Stimmungsschwankungen, Rebellion und lange Krankenhausbesuche stehen auf der Tagesordnung.

Die Schwestern stehen sich nahe und gehen nach der Grundschule beide auf die katholische Ludwig-Windthorst-Schule (LuWi) in Hannover. Lehrer und Schüler der LuWi beschreiben Vanessa als lebensfroh und extrovertiert. Vanessa selbst findet, dass sie ein sehr passiver Mensch ist. Ein Mensch, der anderen auf Anhieb viel zu sehr vertraut und oft enttäuscht wird. Sie wurschtelt sich durch, schafft ihren Erweiterten Realschulabschluss. Sie wird Kosmetikerin, arbeitet in der Tankstelle ihrer Eltern und schließlich für eine Bank als Telefonistin.

Sie träumt von einer eigenen Familie

Mitte 2015 tritt ein neuer Mann in Vanessas Leben. Groß und dunkelhäutig ist er. 33 Jahre alt, auch adoptiert wie sie. „Eine der schönsten Beziehungen, die ich je hatte. Sehr liebevoll, sehr fürsorglich. Ein sehr sensibler Mann. Es hat einfach gepasst.“ Ihr gegenüber behauptet er, er sei Fitnesstrainer. Plötzlich geht alles ganz schnell. Er holt ihre Sachen aus ihrer Wohnung und sie zieht zu ihm in sein Haus in Hildesheim. Vanessa träumt von einer eigenen Familie.

Sie sind noch kein halbes Jahr zusammen, da beginnt die Fassade zu bröckeln. Er beginnt wegen Kleinigkeiten auszurasten, zieht an ihren Haaren. Danach entschuldigt er sich. Es komme nie wieder vor. Er wird sich ändern. Vanessa kann ihn nicht mehr einschätzen. In einem Moment ist er aggressiv, im nächsten weinerlich. „Ich hätte die Notbremse ziehen sollen, da schon einen Schlussstrich ziehen müssen.“ Stattdessen zieht Vanessa erstmal nur aus. Als sie zusammen ihre Möbel aus dem Haus tragen, tritt er ihr unerwartet in den Rücken. Sie dreht sich um. „Was war das?“, fragt sie. Er lacht. „Stell dich nicht so an. War doch nicht so schlimm“, sagt er. Er besucht sie zu ihrem 27. Geburtstag. Drei Tage vor jenem Tag im Februar. Für Vanessa gibt es kein Zurück.

Am Tag des Säureanschlages geht Vanessa frühmorgens um fünf Uhr mit ihrer Beagle-Dame Kylie im kleinen Park um die Ecke spazieren. Plötzlich kriecht der Exfreund aus einem Gebüsch hervor und ruft mehrmals ihren Namen. Sie hat Angst. „Ich habe eine einstweilige Verfügung gegen dich!“, lügt sie. „Ich gehe sowieso ins Gefängnis“, sagt er und schüttet ihr hochkonzentrierten Rohrreiniger ins Gesicht. Adrenalin schießt durch Vanessas Körper. Sie spürt keine Schmerzen. Nur eine Art Wärmedecke, die sich auf ihr Gesicht legt. Sie schreit wohl zweimal laut auf. Das erzählt später die Frau, die Vanessa nach dem Anschlag hilft und den Notruf absetzt. Vanessa selbst kann das nicht, weil ihr Handy verätzt ist. Genauso wie ihr Dekolleté und die Unterwäsche. „Fasst mich nicht an“, sagt sie zu den Menschen, die ihr zur Hilfe eilen und sie entkleiden wollen. Sie hat Angst, andere zu verletzen. Sie setzt sich in ein Gebüsch. Sie fühlt sich allgegenwärtig. Sie kann alles, weiß alles. Instinktiv spuckt sie aus, anstatt zu schlucken. Das rettet ihr das Leben.

Nur noch ein Ohr, ein Auge, ein Nasenloch

„Ich bin Diabetikerin. Sie müssen mich messen“, sagt sie im Krankenwagen immer wieder. „Sie sind in Sicherheit“, sagt der Sanitäter. Vanessa fällt in Ohnmacht. Kommt wieder zu sich. Denkt, jetzt wird sie ein bisschen verarztet und kann nach Hause. Stattdessen wird sie 12 Tage ins künstliche Koma gelegt. Als sie aufwacht, hat sie noch ein Ohr, ein Auge, eine Augenbraue, ein Nasenloch. Der Mund hängt schief und der Haaransatz ist auf einer Seite verätzt. Im Krankenhausfenster sieht sie ihre Reflexion. Sie weiß nicht, wo die Reise hingeht. Morphium hält sie hoch. Und die Erziehung der Eltern. Stark sein, zusammenreißen.

Manchmal träumt sie, dass sie weint. Wenn sie aufwacht, schluchzt sie zwar laut, aber es kommen keine Tränen. Vanessa kommt in die Rehabilitation nach Thüringen. Die Freunde organisieren eine Homepage, um Spenden für Vanessa zu sammeln. Sie bekommt nur etwas mehr als 700 Euro Krankengeld.

Vanessa möchte ihre mittlerweile geschiedenen Eltern nicht schon wieder enttäuschen. „Meine Eltern sind noch viel mehr verbrannt als ich“, sagt sie. Sie trifft Menschen, die durch Autounfälle oder Hausbrände entstellt worden sind. Vanessa trägt nachts eine Kompressionsmaske, die die Narben glätten soll. Andere in der Reha meckern über die unbequeme Maske und lassen sie weg. Vanessa kommt ins Grübeln. Kann ein vernarbtes und verbranntes Menschenwesen wirklich entscheiden und absehen, was richtig für es selbst ist? Ärzte zeigen zwanzig Jahre alte Anschauungsbilder. Veraltete Techniken.
 

Schüler und Lehrer der Ludwig-Windthorst-Schule freuen sich über das Ergebnis des Spendenlaufes, mit dem sie der ehemaligen Schülerin helfen.

In Vanessa reift eine Mission heran: ein neuer Lebensweg. Vielleicht hat alles einen Sinn. Ihr Körper soll Anschauungsobjekt werden, verkauft an den guten Zweck der medizinischen Wissenschaft. „Ich möchte das Vorbild für das Gute und das Schlechte sein. Anderen Patienten am eigenen Körper Behandlungsmöglichkeiten aufzeigen. Das lebende Lehrbuch für die, die noch kommen. Lass mich die Prostituierte der Geächteten sein.“ Vanessa fängt an zu schreiben, sobald sie einen Stift halten kann. Ein Selbsthilfe- und Erfahrungsbuch für andere Brandopfer. Gemeinsam mit ihren Ärzten plant sie Operationen: Glasauge, Augenbrauenrekonstruktion und der Mund, damit sie nicht sabbert. Im Dekolleté sollen die Narben wuchern dürfen.

Ehemalige Schule hilft mit Spendenlauf

Katja Nolte, Vanessas ehemalige Klassenlehrerin in der siebten und achten Klasse an der LuWi, erfährt in der Zeitung von dem Säureanschlag. Schnell steht fest: Die Schule will etwas für sie tun. Die rund 850 Schüler der Schule laufen für sie in einem großen Spendenlauf um den Maschsee. Die komplette Spendensumme von mehr als 22 000 Euro wird geteilt: Eine Hälfte bekommt Vanessa. Die andere Hälfte geht an Misereor für ein Hilfsprojekt in Syrien. Vanessa ist überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft.

„Mein Weg war schon immer anders, kein gerader und asphaltierter“, sagt Vanessa. Sie hat durch ihr Schicksal eine neue Mission gefunden. Der Exfreund spielt in ihrem neuen Leben kaum noch eine Rolle. Vor Gericht habe er gesagt, er hätte ihr auch noch gerne Hände und Füße abgeschnitten. Manchmal hat sie deswegen Angst. Hassen tut sie ihn nicht. „Hass macht dumm“, sagt sie. „An diesem Morgen, als er mich komplett zerstören wollte, hat er nicht mich getroffen, sondern sich selbst.“

Marie Kleine


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