Erst als Rentner hat Erich Kabul gelernt, ein Instrument zu spielen. Der 94-Jährige sorgt an jedem Dienstag für die musikalische Begleitung des Seniorennachmittags im Kirchort St. Franziskus in Hannover-Vahrenheide. Wie Kabul dazu kam, ist eine Geschichte voller Abenteuer, Irrungen und Wirrungen.
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Erich Kabul unterstützt mit seinem Keyboard den Gesang beim Seniorennachmittag im Kirchort St. Franziskus in Hannover. Foto: Nestmann |
Über Pfarrinnenhof, Kirche und Vorplatz schallt es bis auf die Dresdener Straße: „In einem Polenstädtchen, da lebte einst ein Mädchen. Das war so schön...“ 29 Seniorinnen und ein Senior singen, was die Kehlen hergeben. Das halbstündige gemeinsame Singen bildet beim Seniorennachmittag immer den Abschluss. Das Lied von dem wunderschönen Mädchen aus dem Polenstädtchen darf dabei niemals fehlen, weiß Erich Kabul, der den Gesang am Keyboard begleitet.
Dabei ist Kabul gar nicht sein richtiger Name: „Eigentlich heiße ich Irgesch Kabulow“, sagt der 94-Jährige. Geboren ist er am 22. September 1922 in Karamaza, Tadschikistan. „Von meiner Volkszugehörigkeit her bin ich Usbeke“, sagt Kabul.
Vater wird kurz nach seiner Geburt erschossen
In Russland herrscht damals noch immer Bürgerkrieg zwischen den Bolschewiken (den Roten) und den „Weißen“. Diese gegnerischen Parteien sind zwar fast besiegt, dennoch kämpfen vor allem im asiatischen Teil die moslemischen „Basmatschi“-Rebellen weiter gegen die Bolschewiki. Als Erich Kabul gerade einen Monat alt ist, erschießen zehn Rotarmisten seinen Vater. Er ist ihnen aufgefallen, als er in Richtung Nachbardorf ritt. Sie haben ihn für einen Rebellen gehalten. Dabei wollte er nur einen Sack Reis für ein Fest kaufen.
18 Jahre später ist Erich Kabul selber Rotarmist. Als Angehöriger einer Kavallerie-Einheit besetzt er im Oktober 1940 Bessarabien (heute: Moldawien). Dieser zuvor rumänische Landesteil hatte aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion abgetreten werden müssen. Wie in den baltischen Staaten und Ostpolen werden auch in Bessarabien die Volksdeutschen gemäß einer deutsch-sowjetischen Übereinkunft ausgesiedelt. „Wir ritten in ehemals volksdeutsche Dörfer, die so schön waren, wie ich noch nie zuvor welche gesehen hatte. Die Deutschen hatten sie gerade verlassen. Alles war sauber, wohlgeordnet, die Scheunen voller Korn, die Weinreben in den Gärten voll süßer Trauben“, berichtet Kabul.
Am 22. Juni 1941 ist Schluss mit der Idylle. Deutschland erklärt der Sowjetunion den Krieg. Die Kavallerie-Einheit, zu der Kabul gehört, ist auf dem Rückzug. Der wird bald chaotisch. Im Herbst wird die rote Kavallerie von drei deutschen Stukas bombardiert und beschossen. Erich Kabuls Pferd geht durch und wirft ihn ab. Er versucht, zu Fuß wieder Anschluss an seine Truppe zu bekommen, doch er gerät in deutsche Gefangenschaft. Darüber sagt er: „Wir Gefangenen haben vier Tage lang überhaupt nichts zu essen bekommen.“ Dann gelingt ihm mit ein paar Leidensgenossen die Flucht. Zu Fuß kann er nicht zu seiner Truppe zurückkehren – die Front ist mittlerweile 300 Kilometer entfernt. Entkräftet kann er in einer ukrainischen Kolchose unterschlüpfen, wo er Arbeit findet.
Im Frühjahr 1942 werben die Deutschen in der Kolchose für einen freiwilligen Arbeiteinsatz in Deutschland. Kabul meldet sich. Er wird nicht als Rotarmist erkannt und kommt zusammen mit ukrainischen Freiwilligen nach Deutschland. Dort wird er in der Landwirtschaft eingesetzt.
Gegen Kriegsende arbeitet er auf einem Hof in der britischen Zone. Die Gefangenen werden durch britische und sowjetische Offiziere unter Druck gesetzt, sich repatriieren zu lassen. Das heißt in Wahrheit: Erschießung oder zumindest Deportation nach Sibirien. Kabul aber wird von seinem deutschen Bauern erfolgreich versteckt.
Er bleibt in Deutschland und arbeitet bei einem Schustermeister. Später heiratet er eine aus Westpreußen vertriebene deutsche Bauerntochter. Dann, im Jahr 1959, macht er seinen Lkw-Führerschein. Für Hobbys bleibt ihm wenig Zeit. Mit 63 Jahren geht er, der seit 1974 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, in Rente: „So, jetzt lerne ich ein Instrument, das ich schon immer lernen wollte: Akkordeon!“ Er lernt es gründlich und spielt dann 16 Jahre lang Akkordeon in einer zwölfköpfigen Senioren-Kapelle. „Das waren sechs Frauen und sechs Männer. Wir hatten außer Akkordeon auch Klavier, Geige, Gitarre, Zither und andere Instrumente dabei. Das war toll“, betont Kabul. Durch Todesfälle wird die Kapelle stetig kleiner. Jetzt ist nur noch er übrig.
Nach Schlaganfall gibt er nicht auf
Acht Jahre ist es her, da erleidet Kabul selbst einen Schlaganfall. Doch er gibt nicht auf. „Eineinhalb Monate war ich dann in der Reha. Ich habe geübt und geübt, später auch mit meinem Instrument“, sagt er. Das Akkordeon kann Erich Kabul nicht mehr halten. Dafür spielt er jetzt Keyboard. Was sind seine Vorlieben? Erich Kabul sagt: „Ich spiele nur Volkslieder. Ich liebe Harmonien, keinen Rock, keinen Pop. Das ist nämlich nur Krach.“ Lieblingslied des Usbeken ist das deutsche Volkslied „Waldeslust“.
Besuche in der Heimat sind wieder möglich
Erich Kabul ist seit gut 15 Jahren Witwer und wohnt seit vier Monaten in einem Seniorenheim: „Leider haben meine verstorbene Frau und ich keine Kinder bekommen können.“ Doch ein anderes Glück ist ihm beschieden: „Ich habe meine Verwandten in der Heimat besuchen können.“ Die Perestrojka macht es möglich. Fünfmal hat Erich Kabul bereits seine Verwandten in Tadschikistan und Usbekistan besucht, zuletzt im vergangenen Jahr. Seine Nichte Scharapat Chalmersayowa hat ihn befragt und über sein abenteuerliches Leben ein Buch drucken lassen. Erich Kabul ist stolz, dass er in den Jahrzehnten in der Fremde seine usbekische Muttersprache nicht verlernt hat.
Sein Lebensmotto: „Nicht unterkriegen lassen und immer lernen. Ich kann Schuhe herstellen, Motorräder und Lkws reparieren und wenn es darum ginge, ein Einfamilienhaus zu elektrifizieren, könnte ich das auch.“ Hat er noch Pläne für die Zukunft? „Ja“, sagt der 94-jährige, „ich will sehen, ob ich im Seniorenheim nicht auch einen kleinen musikalischen Kreis aufbauen kann.“
Tillo Nestmann