„Pharisäer und Zöllner im Tempel“ ist ein Klassiker unter jenen Beispielerzählungen, die der Evangelist Lukas von Jesus überliefert. Knapp, klar und deutlich. Mit dem klassisch-simplen Strickmuster „good guy – bad guy“, Held und Bösewicht in einem Lehrstück über Gottgefälligkeit.
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Zwei Typen leben ach! in meiner Brust: der Zöllner (links) und der Pharisäer (rechts), wie sie Julius Schnoor von Carolsfeld (1794-1872) sehr klischeehaft illustriert hat. Foto: fotolia, pa /Fotomontage: G. von Hebel |
Zu derart einfachen Bibeltexten, die scheinbar keiner Auslegung bedürfen, kursiert unter evangelischen Predigern folgende Episode: Ein schwäbischer Pfarrer beschloss im Gottesdienst dieses Evangelium mit der Frage: „Liebe G’schwischter, habt ihr’s g’hört?“ Die Gemeinde – wissend, dass ihr Pfarrer jetzt gern eine Antwort vernähme – sagte brav: „Ja!“. Darauf der Pfarrer: „Guard! Dann denkt au dra, morge und übermorge! Amen.“
Gehört oder gelesen habe ich es. Was aber halte ich vom Evangelium dieses 30. Sonntags im Jahreskreis nach katholischer Leseordnung? In der orthodoxen Kirche gehört diese Lesung zur Vorbereitung auf die Fasten- und Passionszeit; da ist sie durchaus treffend platziert. Es sei daher an dieser Stelle eine kleine Gewissenserforschung gestattet. Beginnend mit der Faust’schen Einsicht „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust …“ Steckt doch in jedem Gläubigen etwas von dem zitierten Zöllner und dem zitierten Pharisäer.
Der Pharisäer – oder allgemeiner: der untadelige Mensch – in mir liebt und achtet Gott. Er befolgt seine Gebote (weitgehend) und ist durchaus dankbar für das Geschenk des Glaubens. Er ist „der fromme Christ“. Der Zöllner dagegen – der gierige Kapitalist, der ausbeuterische Unternehmer und Steuerhinterzieher, der liberale Fernstehende, verschwenderische Konsument, das zynische Lästermaul … Da mag sich jeder seinen moralischen Antihelden vorstellen.
Du hast nicht gestohlen, nicht betrogen und gelogen
Hin und her wandert der Blick zwischen jenen zwei Spiegeln, in denen ich einmal den frommen Katholiken, der Gutes tut, erblicke und einmal den tricksenden, sich herausredenden Zöllner, der von den Ungerechtigkeiten dieser Welt profitiert. Dann aber wandert der Blick des Pharisäers hinüber zum Zöllner und er sagt sich mit dem Refrain eines Liedes von Reinhard Mey: „Du hast nicht gestohlen, nicht betrogen, und wenn irgend möglich nicht gelogen, oder wenn, dann ist das wenigstens schon eine ganze Weile her. Hast fast nie nach fremdem Gut getrachtet, und fast immer das Gesetz geachtet, aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr.“ Und mit den Selbstzweifeln, „ob ich dem, der um Hilfe bat, was ich ihm geben konnte, gab, was ich für ihn tun konnte, tat“, nehme ich langsam jene Haltung vor Gott ein, auf die es Jesus in dem Gleichnis ankommt.
Der 51. Psalm, den der Zöllner auf den Lippen hat und der auch dem Pharisäer vertraut ist, kennzeichnet die Haltung so: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.“ Das ist drastisch, aber deutlich.
Hätte der Zöllner seine Sünden zwar bereut, dann aber zwei Sätze später dafür gedankt, dass er „nicht so ist wie die bigotten Pfaffen und hochnäsigen Frömmler“, wäre er kaum gerechtfertigt nach Hause gegangen. Schon gar nicht, wenn er sein Leben so fortgesetzt hätte wie bisher.
Das Gleichnis will also weder den Pharisäer in mir, den einigermaßen untadeligen Gläubigen, verdammen; noch will es den Zöllner in mir, den Sünder, generell aufwerten. Was Jesus kritisiert, ist die Selbstgerechtigkeit des Untadeligen, der meint, ein gottgefälliges Leben sei allein sein Verdienst, und dabei auf andere herabschaut, denen das nicht gelingt.
Du sollst vollkommen sein wie der Vater im Himmel
Auf die Frage, wer er sei, antwortete Jorge-Mario Bergoglio in einem seiner ersten Interviews als Papst Franziskus: „Ich bin ein Sünder.“ Er meint das weder ironisch, noch kokettiert er damit. Vielmehr skizziert er sich selbst – als Oberhaupt der Katholiken – in genau dem Sinn, um den es im Evangelium geht. Der „Maßstab“ für ein gottgefälliges Leben ist Gott: „Seid vollkommen, wie es euer Vater im Himmel ist“, sagt Jesus und legt die Latte unerreichbar hoch. Solch ein Maßstab könnte frustrieren und entmutigen. „Nobody is perfect!“ – schon gar nicht vor Gott.
Dennoch sollte ich mir regelmäßig ein paar Fragen stellen; nicht umsonst beinhaltet das Nachtgebet der Kirche, die Komplet, eine tägliche Gewissenserforschung: Habe ich mich an Gott gewendet? Ihn gebeten, ihm gedankt? Versucht, ihn in jenen Menschen zu sehen, die mir begegnet sind? Wie gerecht und ungerecht war ich gegenüber anderen und mir selbst? Was tue ich mit meinem Geld? Habe ich meine kleinen oder gro-ßen Entscheidungen nur an mir oder auch an der Gemeinschaft orientiert? Bekenne ich mich zu Christus? Wie sehr lebe ich auf Kosten anderer Menschen und nachfolgender Generationen? Nenne ich Unrecht beim Namen? Teile ich das, was ich habe: Wissen, Erfahrung, Besitz? …
Dabei – der springende Punkt im Gleichnis! – darf der christliche Maßstab nicht der Vergleich zu anderen sein, ob ich sie nun als „Frömmler“ oder „Ungläubige“, als „Heilige“ oder „Sünder“ erachte. Was also bleibt mir?
1. Der aufrichtige Wille, Gottes Liebe in meinem Leben weiterzuverschenken. 2. Die Einsicht des Zöllners, dass ich dies nie zur Genüge schaffe und auf weltliche Maßstäbe und Vergleiche hereinfalle, also ein Sünder bin und auf Barmherzigkeit hoffen darf. 3. Damit bleibt mir gleichzeitig das Selbstbewusstsein eines Pharisäers, der weiß, wie gut und erfüllend ein Leben im Glauben sein kann. 4. Verbunden mit der Einsicht, dass solch ein Leben nicht mein Verdienst ist, sondern zu großen Teilen ein Geschenk.
Von Roland Juchem