Eine Studie hat sich mit der Betreuung von Heimkindern in katholischen Behinderteneinrichtungen befasst. Was bedeutet das für die Behindertenhilfe im Bistum Hildesheim? Fragen an Pia Stapel.
Die Studie umfasst die Jahre 1949 bis 1975, die Einrichtungen der Behindertenhilfe im Bistum sind erst Anfang der 1970er-Jahre gegründet. Gibt es für Sie eine Verpflichtung aus dieser Geschichte?
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Pia Stapel ist seit 2011 Geschäftsführerin der Stiftung Katholische Behindertenhilfe im Bistum Hildesheim. |
Selbstverständlich fühlen wir uns verpflichtet, solche Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung nie wieder entstehen zu lassen. Zwar hat sich die Arbeit für und mit Menschen mit Unterstützungsbedarf in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Aber wir müssen sehr achtsam für Grenzüberschreitungen sein und genau hinsehen, wenn es um Abhängigkeits- und Machtverhältnisse in der Betreuungsbeziehung geht. Es ist die kontinuierliche Aufgabe unseres Qualitätsmanagements und der Personalentwicklung, diese Themen im Blick zu haben.
Ein Ergebnis der Studie: Kinder und Jugendliche waren Einrichtungen ausgeliefert, in der sie Schutz und Bildung erhalten sollten. Wie kann die Stiftung Behindertenhilfe heute gegen Gewalt jeder Art vorbeugen?
In der Arbeit mit schutzbefohlenen Menschen war Prävention vor Gewalt jeder Art immer schon ein Thema. In den letzten Jahren haben wir die Präventionsarbeit, vor allem im Bereich sexualisierter Gewalt, allerdings stark systematisiert: Es gibt mittlerweile eine caritaseigene Präventionsordnung, regelmäßige verpflichtende Präventionsschulungen für alle Mitarbeiter und Ansprechpersonen für das Thema sexualisierte Gewalt in jeder Einrichtung. Mitarbeiter erhalten Supervision und Fortbildungen, und die Einrichtungen arbeiten aktuell an individuellen Schutzkonzepten und an einer Risikoanalyse.
Bedeutet Prävention nicht, behinderte Menschen, gerade Kinder und Jugendliche, zu ermutigen, ihre Rechte wahrzunehmen?
In unseren Einrichtungen möchten wir alle dort lebenden Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, gut auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben vorbereiten. Dazu gehört als „lebenspraktische Fähigkeit“ auch, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu kennen und zu benennen. Im Röderhof bieten wir Jugendgruppen an, in denen Jungen und Mädchen – je nach Bedarf zusammen oder auch getrennt – ihre aktuellen Themen zur Sprache bringen können. Wir ermutigen sie dazu, für sich einzustehen und sich in die Einrichtung auch einzubringen. Partizipation ist ein wichtiges Stichwort.
Unwissenheit ist das eine, was Menschen zu Opfern macht. Abhängigkeit das andere. Werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Einrichtungen der Behindertenhilfe heute noch als „Schutzbefohlene“ und damit als Objekt pädagogischer Zuwendung gesehen?
Ich halte den Begriff „schutzbefohlen“ nicht grundsätzlich für problematisch. Ich denke eher, dass es ein schmaler Grat ist zwischen dem Ermöglichen eines Entfaltungsfreiraums und der engen Begleitung von Menschen, die unterschiedlich oft und viel Unterstützung brauchen. Unsere Mitarbeiter der Stiftung setzen sich jeden Tag damit auseinander. Sie sind gefragt als möglichst „neutrale“ Assistenten, aber auch als Orientierung gebende Stütze in allen möglichen Lebenssituationen.
Auch rechtlich problematisch sind sogenannte „freiheitsentziehende Maßnahmen“, zum Beispiel wenn Menschen fixiert werden müssen. Wie geht die Stiftung Behindertenhilfe damit um?
Ziel ist es, freiheitsentziehende Maßnahmen so selten wie möglich anzuwenden. Es gibt aber Situationen, in denen eine solche Maßnahme nötig ist, um Menschen vor sich selbst oder auch andere in ihrem Umfeld zu schützen. Wir arbeiten dann sehr eng mit den gesetzlichen Betreuern und dem Amtsgericht zusammen, denn eine freiheitsentziehende Maßnahme erfolgt natürlich nur auf der Grundlage einer richterlichen Anordnung. Die Mitarbeiter, die diese Menschen betreuen, haben Gelegenheit zur Fallbesprechung und zur Reflexion von Vorkommnissen.
Bund und Länder haben sich geeinigt, gemeinsam mit den Kirchen einen neuen Fonds für Betroffene zu finanzieren. Ehemalige Heimkinder sollen eine pauschale Anerkennungssumme von 9000 Euro erhalten. Für Rentenleistungen werden bis zu 5000 Euro ausgezahlt. Kann das Leid wirklich mildern?
Geld kann kein Leid mindern. Aber die finanzielle Anerkennung von Leid kann zumindest ein Zeichen setzen, dass dieses Leid gesehen und als relevant eingeschätzt wird. Für die ehemaligen Heimkinder aus dem Regelsystem hat es solch einen Fonds bereits gegeben. Umso wichtiger ist die nun erfolgte Gleichstellung der Menschen mit Behinderung, die jetzt auch das Recht auf eine solche monetäre Anerkennung ihrer schmerzvollen Heimgeschichte haben. Teilweise kann durch die Auszahlung der genannten Summen vielleicht auch eine finanzielle Notsituation etwas ausgeglichen werden.
Caritas-Präsident Neher und Kardinal Woelki haben sich für eine umfassende Rehabilitierung gerade der Menschen ausgesprochen, die fälschlicherweise als „schwachsinnig“ abgestempelt und in ein Heim abgeschoben wurden. Wissen Sie von Betroffenen aus den Einrichtungen der Stiftung Behindertenhilfe?
Uns sind keine konkreten Fälle bekannt. Es wird abzuwarten sein, ob sich vielleicht im Zuge der weiteren Entwicklungen Menschen bei uns melden, die früher völlig fehlplatziert in einer unserer Einrichtungen gelebt haben. Wir sind offen für solche Anfragen und bieten gerne unsere Unterstützung an. Das Thema „Fehldiagnose“ ist auch heute noch relevant, wenn Menschen sich mit ihrer Behinderung in einer Grauzone befinden, die unser System so nicht vorsieht. Es ist unsere Aufgabe als Behindertenhilfe, hierfür in Zusammenarbeit mit den Behörden möglichst individuelle Lösungen zu finden.
Abschließend: Ist für Sie die vorliegende Untersuchung nochmal Anlass, auf Arbeit und Alltag in den Einrichtungen der Katholischen Behindertenhilfe kritisch, aber auch Gutes würdigend, zu blicken?
Die Studie hat ihre Aufgabe auch an dieser Stelle sicherlich erfüllt und angeregt, dass wir noch einmal prüfend in die Vergangenheit blicken. Falls dabei Vorkommnisse ans Licht kommen, fühlen wir uns verpflichtet, diese aufzuarbeiten und bei der zukünftigen Präventionsarbeit zu berücksichtigen. Gleichermaßen ist die Studie aber auch Ansporn, unser Menschenbild und damit unsere Haltung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung weiter zu stärken und danach zu handeln. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Jeder.
Interview: Rüdiger Wala
Erstmals liegt eine umfassende Studie über die Betreuung von Heimkindern in katholischen Behinderteneinrichtungen vor. Die Untersuchung erfasst die Situation in Einrichtungen in Westdeutschland in der Zeit von 1949 bis 1975.
In der Studie "Heimkinderzeit" setzt sich der Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) mit der Situation auseinander, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik in katholischen Einrichtungen Gewalt, Missbrauch und Leid erfahren haben. Mit der Studie bekennt sich der Deutsche Caritasverband mit seinem Fachverband CBP zu seiner eigenen Geschichte und zeigt ein hohes Interesse an einer selbstkritischen und aktiven Aufarbeitung. Diese ist notwendig, um die Arbeit der heutigen Behindertenhilfe und Psychiatrie glaubwürdig an den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention zu orientieren und im Einklang mit dem christlichen Menschenbild umzusetzen.
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit massiven Gewalterfahrungen in den Heimen ausgesetzt waren. Die Ursachen dafür waren vielfältig. Sie finden sich in der Überforderung der Ordensschwestern und Ordensbrüder, die die Hauptlast der Arbeit in den Heimen trugen, in der fehlenden Fachlichkeit der damaligen Zeit, in Gewalt fördernden Strukturen, in der geringen staatlichen Unterstützung der Heime und auch im Fehlverhalten einzelner Verantwortlicher.
Heimkinderzeit - Eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949-1975).
Das vorliegende Studienbuch öffnet Zugang zu den Erfahrungen und Erlebnissen von Menschen mit Behinderungen, die als Kinder in Heimen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie lebten und dort den Bedingungen des "Systems Heim" ausgeliefert waren. Auftraggeber der Studie ist die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP).
Infos: Annerose Siebert, Laura Arnold: Heimkinderzeit - Eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949-1975), ISBN 978-3-7841-2898-6, Lambertus-Verlag, 1. Auflage, Juni 2016, Kartoniert/Broschiert, 276 Seiten, 25 Euro