In den Lesungen dieser Wochen geht es oft um das Ende der alten Welt und den Beginn einer neuen. Und um Menschen, die in die neue Welt eingehen: Vorbilder, Heilige, Gerechte … Dazu ein Gespräch mit dem Berliner Rabbiner Daniel Alter.
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Jüdische Gräber auf dem Ölberg in Jerusalem. Fromme Juden lassen sich dort beisetzen, da nach traditionellem am Ende der Tage alle Völker hierher pilgern und der Messias auf dem Ölberg erscheint. Foto: kna-bild |
Eines stellt Rabbiner Alter gleich zu Beginn klar: „Von Heiligen sprechen wir Juden nicht. Gott allein ist heilig.“ Vorbilder im Glauben indes kennt auch das Judentum. Die Bibel nennt sie an vielen Stellen, etwa in der Lesung dieses Sonntags aus dem Buch Daniel: „Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten“, heißt es dort.
Wer sind diese Menschen, die zum ewigen Leben erwachen? Im hebräischen Wort „Maskilim“ – „Verständige“ – steckt „haskala“ – die Bildung, die Aufklärung. „Es sind also jene, die andere an ihrer
Weisheit teilhaben lassen, ihnen Wissen vermitteln. Es sind Menschen, die in der Weise aufklären,
dass sie anderen Kenntnis über Gott vermitteln“, erklärt Alter.
Die zweite Gruppe, „die zum rechten Tun führen“, sind jene, die nicht nur aufklären und lehren, sondern vorbildhaft handeln, so dass andere ihnen folgen. „Da fällt mir spontan Abraham ein“, nennt Alter ein klassisches Beispiel. Der steckte in schwierigen Entscheidungen, stand gegen Widerstände zum Glauben an Gott, setzte sich für andere ein.
"Unsere Kenntnis von Gott ist beschränkt"
„Da wir Menschen nach Gottes Plan geschaffen, quasi seine Blaupause sind, sollen wir dies auch in unserem Leben verwirklichen“, erläutert der Rabbiner. Wobei das nicht so einfach ist, „weil unsere Kenntnis von Gott beschränkt ist, wir immer nur einige wenige Aspekte seines Wesens erkennen: Gott ist gerecht, also sollen auch wir gerecht sein; Gott ist auch gnädig, daher sollen auch wir gnädig sein.“
Im weitesten Sinne können auch Menschen Glaubensvorbild sein. „Einen solchen Menschen nennen wir ‚Zaddik‘, einen gerechten Menschen, der von Gott als gerecht angesehen wird“, sagt Daniel Alter. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen jüdischen und nichtjüdischen Zaddikim, so der Plural des Wortes.
Um als gerecht angesehen zu werden, müsste ein jüdischer Mensch alle Gebote der Tora erfüllen. Für einen nichtjüdischen Menschen ist die Hürde geringer, er muss nur den sogenannten „sieben noachidischen Geboten“ folgen. Noach war kein Jude, gilt aber als gerecht, weil er intuitiv sieben moralischen Grundregeln gefolgt ist: 1. nicht morden; 2. nicht stehlen; 3. keine Unzucht treiben; 4. keinen Götzendienst betreiben; 5. Gott nicht lästern; 6. keine Tiere quälen; 7. ein Rechtssystem schaffen.
„Jeder nichtjüdische Mensch“, so der Rabbiner, „der diesen grundlegenden Werten folgt, kann sich sagen: Ich bin gerecht und ich werde von Gott miterlöst werden in die kommende Welt.“ Schon im Talmud findet sich der Satz: „Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt.“ Dieser Glaube gründet sich auf Texte im Buch Jesaja, in denen von der Wallfahrt aller Völker zum Berg Zion die Rede ist – dann, wenn die neue Welt anbricht. „Für uns Juden hingegen setzen wir den Maßstab höher, denn uns ist die Tora offenbart worden“, führt Alter weiter aus, „also muss ein jüdischer Mensch diesen Geboten folgen – in der Summe seines Lebens.“ Denn auch Gerechte machen mal Fehler.
Die katholische Kirche hat ihren Heiligenkalender; das Judentum tut sich schwerer, konkrete „Gerechte“ zu benennen. „Auf jeden Fall ist ein Zaddik ein Mensch, der mehr tut als das Minimum.“ Ein Mensch, der „nicht nur für seine eigene Haut, seine eigene Seele und Frömmigkeit sorgt, sondern der sich auch für andere einsetzt, sich für sie die Finger schmutzig macht“.
Auf Nachfrage nennt Alter als Ersten einen Nichtjuden: Oskar Schindler, der während des Holocaust 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung bewahrte. Daher hat der Staat Israel ihm den Ehrentitel „Gerechter der Völker“ verliehen. Diese Auszeichnung ist weniger religiös, sondern eher politisch verstanden. „Gerechte unter den Völkern“ sind jene nichtjüdischen Personen und Organisationen, die sich dem Naziregime widersetzten, um Juden zu retten.
Juden tun sich schwer, einen jüdischen Gerechten zu benennen
Einen jüdischen Gerechten zu benennen, tun Juden sich schwerer, „weil wir sie oft unterschiedlich beurteilen“, erklärt Alter. Etwa Theodor Herzl (1860–1904), den Begründer der zionistischen Bewegung. Für viele Juden ist er ein Vorbild, weil er die Rückkehr des jüdischen Volkes aus fast 2000 Jahren Diaspora ins Gelobte Land in Gang setzte. Andere, zum Teil sehr orthodoxe Juden, verurteilen den Zionismus. Für sie ist Herzl daher kein Zaddik.
Wie nun versteht der jüdische Glaube das Anbrechen der neuen Welt? Die Bibel skizziert sie nur spärlich. „Aber ich denke, dass wir auf eine sehr positive Zeit zusteuern“, sagt Alter und zitiert die markanten Sätze der Propheten Micha und Jesaja über umgeschmiedete Schwerter, verbrannte Kriegsstiefel und das friedliche Beieinander von Lamm und Löwe. Es ist die Zeit, in der nicht nur das jüdische, sondern alle Völker nach Jerusalem kommen und vor Gott hintreten, „die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach“.
Nach traditioneller jüdischer Vorstellung kommt dann auch der Messias, „ein reiner Bote, der keine eigene Kraft oder Wirkung hat und nur die kommende Welt ankündigt“, erklärt Alter. Dann, so die Vorstellung, öffnen sich die Gräber und „alle Verstorbenen – ob jüdische oder nicht –, die in der Summe ihres Lebens gerecht waren, werden sich erheben und werden unter den Zeichen des himmlischen Friedens leben“.
Von Roland Juchem