Krisen allerorten: Flüchtlings- und Finanzkrise, Krise der Demokratie. Geht der Gesellschaft der Kitt verloren? Kommerz und Gier statt solidarischem Wirtschaften und Handeln? Was würde der Vordenker der katholischen Soziallehre, Pater Oswald von Nell-Breuning, dazu sagen? Fünf Punkte
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Vordenker, Streiter, Nestor der katholischen Soziallehre: Pater Oswald von Nell-Breuning. Foto: kna-Bild |
Über die Ungerechtigkeit des Wohlstandes
„Unbestreitbar ist, dass wir auf Kosten der unterentwickelten Völker leben, dass unser Überverbrauch ihre Verbrauchsmöglichkeiten schmälert, weil sich so viel, wie wir für uns allein in Anspruch nehmen, für alle nicht verfügbar machen lässt.“
1983 schrieb Nell-Breuning diese Zeilen – in einer Zeit, in der nur vermeintliche Öko-Spinner vor den sozialen wie ökologischen Folgen ungehemmten Wirtschaftswachstums warnten. Papst Franziskus, wie Nell-Breuning Jesuit, drückt es heute noch drastischer aus: er spricht im Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ von einer „Wirtschaft, die tötet“, die Menschen und natürliche Lebensgrundlagen wie Waren behandelt, benutzt, wegwirft. Für den deutschen wie den argentinischen Jesuiten wohnt in der Soziallehre aber auch die Kraft zur Umkehr – beginnend mit dem der Anfrage an den eigenen Lebensstil. In der Verheißung, dass eine andere Welt möglich ist. Trotz alledem.
Über die Entfremdung in der Arbeit
„Arbeit bloß um der ,Beschäftigung’ willen wäre Arbeit um ihrer selbst willen. Zur Arbeit gehört ein Sinn oder Ziel, um dessentwillen man arbeitet. Andernfalls ist es keine Arbeit.“
Der Wandel der Arbeitswelt ist dramatisch. Sie wird befristet, unsicher, prekär, sie stellt den Sonntag infrage. Sie wird flexibilisiert unter dem Druck zur Anpassung der Produktionsprozesse an die Logik von Finanzmärkten und des globalen Wettbewerbs. Und Arbeit wird „geliehen“: Werkverträge und Leiharbeit werden auch in Deutschland in großem Stil missbraucht für Lohndumping und Ausbeutung in verschiedenen Branchen. Das System stützt sich vielfach auf das skrupellose Geschäft von Subunternehmern. Deren Willkür und Gier sind die Werkvertrags- und Leiharbeiter schutzlos ausgeliefert. Die Folge: „Arbeitnehmer-Entsendung“, wie die gesetzliche Grundlage heißt, ist zum Menschenhandel verkommen. Nell-Breuning hat stets Wirtschaft und Staat gemahnt: Arbeit ist Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes. Arbeit ist Dienst an Gott, Mensch und Schöpfung. Kein Produktionsfaktor. Kein Selbstzweck. Wer das achtet, handelt anders. Ethik hat ihren Platz im Wirtschaftsleben: „Den Kapitalismus umbiegen“.
Über den möglichen Segen der Produktivität
„Ich denke nicht an die 35-Stunden-Woche, auch nicht an die 24-Stunden-Woche. Ich denke an eine viel weiter gehende Arbeitszeitverkürzung. Ich stelle mir vor, dass wir dahin kommen werden, dass zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht.“
Nell-Breuning war kein Maschinenstürmer. Fortschritt war für ihn nicht etwas grundsätzliches Bedrohendes. Nell-Breunings Weitsicht rüttelt am Fundament des Götzen „Erwerbsarbeit“. Ausgeblendet wird die unbezahlte Arbeit, ohne die diese Gesellschaft schon lange zusammengebrochen wäre: Kinder erziehen, Kranke pflegen, sich ehrenamtlich in das Gemeinwesen einbringen. Wenn nach Nell-Breuning ein Tag ausreicht, um den Bedarf an Konsumgütern zu decken, bleibt mehr Zeit für andere Tätigkeiten: von freiwilliger Nächstenliebe angefangen über gegenseitige Hilfe bis hin zur Selbstverwirklichung. All das, so Nell-Breuning, mache den Reichtum einer Gesellschaft aus und müsse auch öffentlich gefördert werden. Das ist weit mehr als ein zahlenfixiertes Bruttosozialprodukt. Es ist eine von der Soziallehre geprägte Vorstellung eines „guten Lebens für alle“.
Über die Wirklichkeit von Utopien
„Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen lässt [...], das lässt sich auch finanzieren unter der einzigen Bedingung, dass man es ehrlich und ernstlich will.“
In der Politik wird viel über den sogenannten „Markt“ und den freien Wettbewerb debattiert. Nell-Breuning hat nie viel davon gehalten. Weder vom Markt, den er als herzlos und blind für soziale Folgen gehalten hat. Noch vom Wettbewerb, der sich nach Kaufkraft ausrichtet. Das sei weniger demokratisch als das Drei-Klassen-Wahlrecht im alten Preußen. Für ihn muss der Mensch Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Wenn Arbeit einen Sinn haben muss, dann ist Einkommen nicht das Bezahlen, sondern das Ermöglichen von Arbeit. Nell-Breuning dürfte die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) nicht fremd gewesen sein. Das BGE ist ein Einkommen, das eine politische Gemeinschaft bedingungslos jedem ihrer Mitglieder gewährt: zur Sicherung der Existenz, ohne Bedürftigkeit, ohne formale Gegenleistung. Es soll das umfassende Sozialsystem mit all seinen Verwerfungen ersetzen. Nell-Breuning hätte darüber nachgedacht, ob das BGE den Menschen, dem Gemeinwohl, dem guten Leben für alle dient. Nicht aber, ob es finanzierbar ist. Denn das wäre es.
Über die Notwendigkeit von Grenzgängen
„Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx.“
Für diesen Satz ist Nell-Breuning heftig kritisiert worden. Aber er hat sich an Marx, der wie er in Trier geboren ist (auch wenn 72 Jahre dazwischen lagen), konsequent abgearbeitet. Würdigend, und Marx nicht mit Stalin und Gulags gleichsetzend. Nell-Breuning verwarf den durchaus totalitären Anspruch im Marxschen Gesellschaftsmodell. Doch floss viel von der Marxschen Analyse des Kapitalismus in sein Werk ein: angefangen von der Reduzierung der Arbeit zur Ware über die Funktion der Wirtschaft in der Geschichte bis hin zur Ökonomisierung des Alltagslebens durch den weltweiten Kapitalismus. An anderer Stelle schrieb Nell-Breuning einmal: „Das Schlimmste an dem Marx war, dass er keiner von uns war!“
Rüdiger Wala
Quellen:
Zitate 1 und 2: „Worauf es mir ankommt – Zur sozialen Verantwortung“, 1983
Zitate 3 und 4: „Arbeitet der Mensch zuviel?“, 1985
Zitat 5: Katholische Kirche und Marxsche Kapitalismuskritik, 1968
Ein Streiter für die Rechte der Arbeitnehmer
Der Jesuit Oswald von Nell-Breu-ning hat wie kaum ein anderer die katholische Soziallehre geprägt. In den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland hat er zudem entscheidend dazu beigetragen, dass sie ihren Niederschlag in grundlegenden Gesetzeswerken für den jungen Staat fand. Als Stichworte seien genannt: Subsidiaritätsprinzip und Mitwirkung.
Der am 8. März 1890 in Trier geborene Theologe wurde 1928 als Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaft an die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen nach Frankfurt berufen. Nell-Breuning leistete grundlegende Vorarbeiten für die päpstliche Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ von 1931.
Während der Nazi-Diktatur hatte Oswald von Nell-Breuning Lehr- und Veröffentlichungsverbot. Nach der Befreiung wirkte er als Berater in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, so in Beiräten verschiedener Bundesministerien und als Mitglied des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit in Sankt Georgen war er seit 1948 auch Lehrbeauftragter für Moraltheologie und Sozialethik an der Philosophischen Fakultät der Frankfurter Goethe-Universität. 1956 wurde er dort Honorarprofessor für philosophische Grundfragen der Wirtschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und nahm Lehrtätigkeiten an der Frankfurter Akademie der Arbeit wahr.
Nell-Breuning begleitete direkt und indirekt die programmatischen Diskussionen und die politische Praxis der Gewerkschaften und der Volksparteien SPD und CDU. Innerkirchlich beriet er Gremien und Verbände und wirkte bei der Würzburger Synode (1971–1975) mit. Für sein Lebenswerk erhielt Nell-Breuning zahlreiche Ehrungen.
Zum 100. Geburtstag würdigte ihn die Bundesrepublik Deutschland mit dem Großkreuz des Bundesverdienstordens, die Jesuiten begründeten das Oswald-von-Nell-Breuning-Institut. Der „Nestor“ der katholischen Soziallehre starb am 21. August 1991 im Alter von 101 Jahren in Frankfurt. (babs)