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"Die islamische Welt zerbricht"

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Interview mit Islamwissenschaftler zum Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze diagnostiziert angesichts des Konflikts zwischen dem Iran und Saudi-Arabien einen Zerfall der islamischen Welt. Man könne ohne Zweifel von einem Auseinanderbrechen sprechen, sagte der an der Universität Bern lehrende deutsche Wissenschaftler. 

 

"DIe Einheit der islamischen Welt zerbricht", sagt Reinhard Schulze. Foto: kna-bild

Herr Professor Schulze, wie weit ist die aktuelle Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und dem Islam überhaupt ein religiöser Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten?  
Auch wenn der Konflikt durch die Hinrichtung eines schiitischen Geistlichen in Saudi-Arabien hochkocht, handelt es sich im Kern um Machtpolitik und einen Konflikt um die Vorherrschaft in der Region. Saudi-Arabien setzt seine Hegemonialpolitik der vergangenen zwei, drei Jahre fort. Durch die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen wollte die Regierung in Riad zugleich einen prominenten Repräsentanten der schiitischen Minderheit loswerden.  

Die Tatsache, dass der Geistliche am selben Tag wie zahlreiche Kämpfer der arabischen al-Kaida hingerichtet wurde, macht deutlich, dass sie die schiitische Bürgerrechtsbewegung mit Terrorismus gleichsetzt. Zugleich signalisiert die Regierung, dass sie jedweden Anspruch Irans, Schutzmacht der Schiiten auch in Saudi-Arabien zu sein, unterbinden will.  

 

Sie sehen vor allem die Saudis als Schuldige dafür, dass der Konflikt eskaliert?  
Das kann ich nicht bewerten. Auch der Iran ist kein zahmer Konfliktpartner. Er betreibt eine deutliche Schutzmachtpolitik und versucht, seinen Einfluss im Libanon, in Syrien, Irak, Bahrain und eben auch in Saudi-Arabien auszubauen. Auch der Iran hat eine starke außenpolitische Agenda. Für Teheran ist der Golf der Persische Golf.  

 

Dennoch wird der Konflikt auch religiös begründet. Ist diese Zuspitzung des Gegensatzes von Schiiten und Sunniten neu?  
Diese Konfessionalisierung, in der ganze Staaten als Schutzmächte der verschiedenen religiösen Richtungen auftreten, lässt sich erst in den vergangenen 15 bis 20 Jahren beobachten. Sicher gab es auch in den vergangenen Jahrhunderten konfessionelle Streitigkeiten. Aber sie haben sich nur ganz selten auch zu herrschaftspolitischen Konflikten ausgeweitet.  

 

Warum dann diese Verschärfung?  
Dies hat verschiedene Gründe, die nur schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Der Prozess der Konfessionalisierung setzte in den 1990er Jahren ein, als sich verschiedene Regime nach dem Scheitern der alten, oft sozialistischen Entwicklungsmodelle vermehrt einer religiösen Legitimation bedienten.  

 

Darunter leidet dann aber die Einheit der islamischen Welt...  
Die Einheit der islamischen Welt gibt es nicht mehr. Sie ist aus den Köpfen der meisten Muslime verschwunden. Man kann ohne Zweifel von einem Auseinanderbrechen oder Zerfall der islamischen Welt reden. 

 

Welche genuin religiösen Unterschiede tragen denn dazu bei, diesen Konflikt zu untermauern?  
Die meisten einfachen Muslime könnten gar nicht formulieren, welche Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten bestehen. Es gibt nur wenige kultische Differenzen etwa in der Gebetspraxis, beim Gebetsruf oder hinsichtlich dogmatischer Probleme über die Vorherbestimmung, die Werkgerechtigkeit oder über die spirituelle Rolle der Imame. Dann gibt es Unterschiede, weil die Schiiten wie die katholische Kirche eine Art Lehramt kennen, die Sunniten aber nicht.  

Doch diese Details sind den meisten Sunniten, die ja mit 90 Prozent die Mehrheit der Muslime stellen, selten bekannt. Für sie sind Schiiten meist Muslime, die in besonderer Weise Ali, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, sowie dessen Sohn Hussein verehren. 

 

Es geht also in erster Linie um Identität?  
Entstanden ist die schiitische Richtung durch einen Nachfolge-Streit nach dem Tod des Propheten Mohammed. Erst im 12./13. Jahrhundert bildete sich dann eine sunnitische Kollektividentität heraus. Aber der eigentliche religiöse Gegensatz besteht heute nicht zwischen Schiiten und Sunniten, sondern zwischen Schiiten und der im 18. Jahrhundert entstandenen radikalen puritanischen sunnitischen Richtung, dem Wahhabismus, der in Saudi-Arabien zur dominanten, vom Staat geschützten Konfession geworden ist.  

Der Wahhabismus hat eine stark antischiitische Ausrichtung. Er vertritt die Position, dass es keinerlei Darstellung des Göttlichen in der Welt geben dürfe außer dem Koran und dass allein die Tradition des Propheten Mohammed die Lebensführung des Einzelnen zu bestimmen habe. Schiiten dagegen verehren die Imame an ihren Grabstätten als Mittler zwischen Gott und den Menschen und betonen vielfach fromme Rituale, in denen auf eine Präsenz der Göttlichkeit in der Welt Bezug genommen wird. Für Wahhabiten ist außerdem die einzig goldene Zeit des Islam die Zeit der ersten drei Kalifen. Die Schiiten hingegen kritisieren, dass diese Kalifen den Vorzug vor Ali erhalten hatten.

kna


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