Bücher zu lesen, hat Unterhaltungswert – doch wenn die Bücher auf einmal lebendig werden, passiert echte Unterhaltung. Die „Lebendige Bibliothek“ bringt so Menschen ins Gespräch, die sich sonst kaum treffen würden.
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Das Ziel der "Lebendigen Bibliothek": miteinander reden und Vorurteile abbauen, etwa zu Muslimen oder Flüchtlingen. Foto: kna-bild |
„Die Asylanten wollen nur unser Geld“, „Warum meckern alte Menschen immer?“, „Fußballfans sind gewaltbereite Idioten“ – unsere Gesellschaft ist voll von Vorurteilen. Um sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um Diskriminierung zu verhindern, hilft oft nur eins: Aufklärung. Oft verpuffen Artikel oder Reportagen aber im medialen Nirwana. Und wieso sollte man überhaupt einen Umweg machen? Wäre es nicht viel einfacher, wenn man sich direkt unterhalten könnte, wenn man den anderen ohne Hemmungen einfach mal fragen könnte? Genau dafür gibt es die „Lebendige Bibliothek“. Mit normalen Büchereien hat sie bis auf die Struktur aber wenig gemeinsam. Hier gibt es keine mannshohen Bücherregale und besonders ruhig ist es auch nicht. Hier wird sich unterhalten.
Eine richtige Bibliothek – nur die echten Bücher fehlen
In einer „Lebendigen Bibliothek“ gibt es eine Ausleihtheke, Leihfristen und Leseecken – nur dicke Wälzer sucht man vergebens. Stattdessen stehen Menschen zur „Ausleihe“ bereit. Es sind etwa Flüchtlinge oder alte Menschen und sie sind bereit, sich den Vorurteilen anderer zu stellen, einen Einblick in ihr Leben zu geben und Zusammenhänge zu erklären. Die Aktion bringt jene gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch, die sich sonst nicht treffen, die einander fremd sind, und ermöglicht einen Austausch.
Die „Lebendige Bibliothek“ ist erstmals 2000 auf einem Musikfestival in Dänemark ausprobiert worden. Mittlerweile wurde das vom Europarat ausgezeichnete Projekt aber auch auf Konferenzen, in Schulen und auf Stadtteilfesten angeboten. Eine Möglichkeit ist etwa auch das Pfarrfest der Kirchengemeinde.
Die „Lebendige Bibliothek“ kann als Fachbibliothek zu einem Thema aufgebaut sein oder einen breiteren Ausleihkatalog anbieten. Das erfordert natürlich mehr Vorbereitung, spricht in der Themenbreite aber auch mehr Menschen an. Die Besucher können dann wählen, welche „Bücher“ beziehungsweise Ansprechpartner sie interessieren und welche sie „ausleihen“ und „lesen“ möchten.
Als Thema ist vieles denkbar, was in der Gesellschaft diskutiert wird: Bislang haben etwa Veranstaltungen mit Hartz-IV-Empfängern, Muslimen, Sinti und Roma stattgefunden. Aber auch mit Analphabeten, Gehörlosen und Blinden, die von ihrem Leben erzählen. Buch und Leser können sich für eine Stunde in die Leseecke zurückziehen und miteinander reden.
Regeln beachten!
Aber: Es gibt Regeln. Wie man ein echtes Buch nicht mit Schokolade verschmieren oder Seiten herausreißen darf, muss man auch mit dem „lebendigen“ Buch sorgsam umgehen. Werden die Gesprächspartner beleidigt, können sie das Gespräch jederzeit beenden. Ist das Gespräch aber so gut, dass man sich länger unterhalten möchte, kann die Ausleihfrist verlängert werden.
Für eine „Lebendige Bibliothek“ müssen die „Bücher“ gut vorbereitet werden. Die „Leser“ kommen mit unterschiedlichen Vorstellungen: Einige sind neugierig und möchten informiert werden, andere haben massive Kritik. Darauf müssen die Gesprächspartner, die als „Bücher“ bereitstehen, sich einstellen. Dazu kann etwa gemeinsam mit den Veranstaltern eine Liste mit den häufigsten Vorurteilen erstellt werden, so dass sich das „Buch“ auf diese Anfragen besonders gut vorbereiten kann. Bei Themen mit ausländischen „Büchern“ kann es auch sinnvoll sein, die Rubrik „Wörterbücher“ einzuführen. Diese können dann als Übersetzer im Gespräch helfen.
Bei der Suche nach Gesprächspartnern helfen Verbände, Vereine und Organisationen. Bei der Auswahl der „Bücher“ sollte man allerdings darauf achten, dass sie die Veranstaltung nicht als eigene Plattform missbrauchen. Dann steht dem Lesespaß aber nichts im Weg!
Tipps für das Projekt:
Sie brauchen Räume, eventuell ein Zelt und Platz für die Leseecke. Dementsprechend auch Tische und Stühle.
Am Ausleihtresen sitzt die Bibliothekarin, stellt Leseausweise aus, verleiht die Bücher – vermittelt also die Gesprächspartner.
Sie benötigen gute „Bücher“, sprechen Sie Organisationen und Verbände an.
Erstellen Sie eventuell einen Katalog, in dem Sie die verschiedenen Themen der Bibliothek kurz vorstellen und der während der Veranstaltung ausgelegt wird.
Für Schulen kann eine anschließende Auswertung der Veranstaltung sinnvoll sein.
Nicht zu vergessen: Machen Sie Werbung, gestalten Sie Plakate oder Flyer.
Eine gute Zusammenstellung von Tipps und Erfahrungsberichten finden Sie hier
Von Kerstin Ostendorf