Eigentlich ist Amill Gorgis Ingenieur. Doch seine ganze Leidenschaft ist die Religion. Im Gespräch mit ihm offenbart sich bald eine Glaubenstiefe, wie man sie nur selten findet.
![]() |
Amill Gorgis ist überzeugt: "In jedem Zusammenbruch steckt ein Funken Hoffnung". Foto: privat |
Geboren wurde Gorgis im Nordosten Syriens. Obwohl er schon lange in Berlin lebt und fast akzentfrei deutsch spricht, verwendet der 63-Jährige – wie so viele Menschen aus dem Orient – gerne Bilder oder Gleichnisse. Zum Beispiel dann, wenn man ihn nach der Zukunft für seine Heimat befragt, in der seit 2011 ein entfesselter Bürgerkrieg tobt und viele Christen vom Islamischen Staat (IS) getötet oder vertrieben wurden. Dann erzählt der Mann mit den überaus wachen braunen Augen, die trotz der Traurigkeit in seiner Stimme immer ein wenig zu lächeln scheinen, „eine Geschichte“, wie er sagt.
Als die syrisch-orthodoxe Kirche Antiochiens in den achtziger Jahren für sich in Berlin ein Gotteshaus suchte, fiel die Wahl auf die damals entvölkerte Matthäuskirche. Mitten im Brachland, gleich neben der Mauer. Doch die Nutzung wurde den Syrern verweigert. Man wollte den Ort bewusst offen halten. Die Mauer könne ja eines Tages fallen, hieß es. Und sie fiel tatsächlich. Einen ähnlich radikalen Wandel wünschen sich nun viele syrische Christen für ihr Land, erzählt Gorgis. Dass die Islamisten irgendwann so rasch und gründlich von der politischen Landkarte gefegt werden wie einst die DDR und die Sowjetunion.
Auch wenn im Alten Testament, etwa im heutigen Lesungstext aus Jesaja, häufiger die Rede ist von Rache und Vergeltung, versteht Gorgis das nicht im wörtlichen Sinne. „Es geht um Umkehr. Es geht nicht darum, die Menschen zu vernichten, sondern das Böse.“
Viele Christen fühlen sich einmal mehr verraten
Dass wir Christen hingehen und morden und töten, wie es die Dschihadisten schon viel zu lange tun, verbiete sich von selbst. Natürlich gebe es ein Recht auf Selbstverteidigung. Doch im Gegensatz zu etlichen seiner Landsleute glaubt der Vater von vier Kindern nicht daran, dass sich der IS, der heute über weite Teile Syriens und den Irak mit unvorstellbarer Grausamkeit herrscht, militärisch besiegen lässt. „Die Islamisten lassen sich nicht wegbomben. Das Gegenteil ist der Fall“, sagt der Syrer.
Fast täglich kommen derzeit neue Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Berlin. Gorgis, der inzwischen Rentner ist, kümmert sich um rund 20 syrische Familien, hilft ihnen beim Ankommen. „Natürlich haben da einige auch mal Rachegedanken. Wer nicht regelmäßig im Gebet ist, der ist vielleicht eher geneigt, menschlich zu reagieren“.
In der rund 400-köpfigen, überaus lebendigen syrischen Gemeinde Berlins ist Gorgis beliebt, alle rufen ihn beim Vornamen. Er ist Subdiakon, Mitglied im Gemeinderat, hat etliche liturgische Bücher übersetzt. In Vorträgen und Reden hält er zudem die Erinnerung an den Völkermord an seinem Volk, den Armeniern, im Jahr 1915 wach.
Gorgis erzählt, dass sich viele syrische Christen wie damals auch heute wieder verraten fühlten. Die Blinden und Tauben, von denen bei Jesaja die Rede ist, das könnten demnach heute die Amerikaner und Europäer sein, die dem Treiben der Islamisten viel zu lange tatenlos zugeschaut haben und sunnitische Regimes in Saudi-Arabien und Katar unterstützen, obwohl dort die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. „Die lachen uns doch aus“, sagt Gorgis, und aus seiner sonst so ruhigen und bedächtigen Stimme klingt erstmals so etwas wie Verbitterung.
„Eine Gesellschaft kann doch nicht tiefer sinken“
„Nein“, sagt er, „Verbitterung ist das falsche Wort. Entsetzen.“ Dann berichtet Gorgis, was Landsleute erlebt haben. Damit die Schergen des IS es leichter haben, die Christen zu finden und zu töten, haben ihnen Nachbarn ein großes „N“ an ihre Häuser gemalt. N für Nazarener.
Das Böse kommt in immer ähnlichem Gewand. So wie in Nazideutschland einst der gelbe Stern die Juden brandmarkte, so hilft heute das „N“, die letzten Christen aus dem Nahen Osten, der Wiege unseres Glaubens, zu vertreiben.
Im Gespräch entsteht eine Pause. Irgendwann hat sich Gorgis aus der aufkommenden Trübnis befreit und sagt: „Ich möchte mir nicht immer nur Sorgen machen müssen. Ich möchte das einfach Gott überlassen. Wir Menschen versuchen immer, die Heilsgeschichte mit unserem begrenzten Verstand zu verstehen. Aber das ist unmöglich.“
Dann verweist er auf Jesaja 55. Dort heißt es sinngemäß, dass der Abstand vom Denken und Handeln Gottes zu dem von uns Menschen in etwa so groß ist wie die Distanz zwischen Himmel und Erde. Dann wird Gorgis konkreter und sagt: „Trotz allem habe ich Hoffnung.“ Den Mauerfall habe sich damals ja auch kaum noch jemand vorstellen können. Und was da jetzt in Syrien und im Irak passiert, sei schlicht so irr- und wahnsinnig, dass früher oder später doch jeder vernunftbegabte Mensch begreifen muss: „Das kann unmöglich Gottes Wille sein. Gefangene zu misshandeln, Frauen zu versklaven und zu vergewaltigen, Menschen zu enthaupten. Tiefer kann eine Gesellschaft doch gar nicht sinken.“
Am Schluss kommen wir auf die Liturgie der aramäischen Kirche zu sprechen. Ich bitte Gorgis das „Vaterunser“ in der Sprache Jesu zu sprechen. Er tut es. Mehr noch: Er singt das heiligste Gebet der Christenheit. Die Melodie klingt unsagbar traurig. Ein Moment der Stille entsteht.
Schließlich und etwas unvermittelt gesteht Gorgis: „Wissen Sie, ich fühle mich noch immer in Christus geborgen.“ Nach einer Weile fügt er noch hinzu: „Das ist doch das Zentrum unseres Glaubens. In jedem Zusammenbruch steckt ein Funken Hoffnung. Es kann nach Karfreitag immer auch ein Ostern geben.“
Von Andreas Kaiser