Mit drei Jahren wird er von der eigenen Mutter ausgesetzt, mit fünf vom Vater fast totgeschlagen. Als Tim Guénard sich von aller Welt verlassen fühlt, findet der Pariser Straßenjunge zu Gott und in der Kirche eine Heimat.
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So ähnlich wie dieser Junge musste sich auch Tim Guénard auf den Pariser Straßen durchschlagen. Symbolfoto: imago |
Hohe weiße Lackstiefel, ein Rücken, der sich entfernt, ein Auto, das im Nebel verschwindet. Das ist das Letzte, was der kleine Tim (3) von seiner Mutter sieht. Sie hat ihren Sohn an einen Strommast gebunden und ist gegangen, ohne sich umzusehen. Kein „Auf Wiedersehen“, kein Kuss, kein „Verzeih mir, bitte.“ Das Kind bleibt völlig hilflos am Waldrand zurück. Die Mutter hat ihn mit 16 zur Welt gebracht und später entsorgt wie ein ungeliebtes Haustier, weil bei ihrem neuen Partner kein Platz für ihn war.
Am nächsten Morgen finden Polizisten einen zitternden frierenden Jungen, der vor lauter Angst nicht sprechen kann. Sie spüren Tims Vater auf, der in Paris als Leibwächter arbeitet. Ein Mann wie ein Baum, groß, schlank, athletisch, wortkarg. In seinen Adern fließt das indianische Blut seiner Vorfahren, das schnell in Wallung gerät. Der Mann ist schwerer Alkoholiker und in seinen Reaktionen unberechenbar. Für Tim beginnt beim Vater eine fast unbeschreibliche Leidenszeit.
Von der Klinik ins Heim – doch den Jungen mit der kranken Seele will keiner
Es ist der Abend seines fünften Geburtstags, als ihn sein Vater beinahe umbringt. Schwere Schläge zerreißen ein Augenlid, das Trommelfell und zerfetzen ein Ohr. Kiefer und Nase sind gebrochen. Seine Beine sind zertrümmert. Für zweieinhalb Jahre wird die Klinik zu Tims Zuhause. Sein einziger Besuch ist die Krankenschwester, die ihm täglich eine Spritze bringt. Dem Vater ist das Sorgerecht entzogen worden und Tim landet mit sieben Jahren in einem Heim, das Kinder zur Adoption vermittelt. Doch den nervösen Jungen mit zerschundenem Körper und der kranken Seele will keiner haben.
Tim wird in ein Heim für Schwererziehbare abgeschoben, wo der Jüngste von den Älteren brutal gequält wird. Bis seine Angst in Hass umschlägt, bis er sich wehrt, bis er selber ausrastet. Nach einer Prügelei reißt er aus und schlägt sich nach Paris durch. Mit zwölf Jahren hat Tim genügend Erfahrungen mit Hass, Gewalt und Schmerz für eine Karriere im Untergrund gesammelt.
Tim steht Schmiere für Hehler, Zuhälter und andere zwielichtige Gestalten. Er stiehlt und verdient sein Geld mit Liebesdiensten bei reichen Damen. Als er von der Polizei erwischt wird, kommt er wieder ins Heim, reißt wieder aus und trifft auf eine Richterin, die es gut mit ihm meint. Sie vermittelt ihm eine Lehrstelle in einem Steinmetzbetrieb. Mit den Kollegen kommt er gut aus. Meistens. Doch sein vom Vater geerbtes Irokesenblut gerät bei geringstem Anlass in Wallung. Dann schlägt er zu. Wie der Vater lernt Tim boxen, besessen von der Idee, diesen später umzubringen.
Trotzdem: Mit 18 Jahren hält Tim Guénard sein Diplom als Steinmetz in Händen, wird Vorarbeiter in einer Baufirma. Er kann gut mit Leuten umgehen, hat Freunde. Einer von ihnen ist Jean-Marie, ein bekennender Christ. Jean-Marie lebt in der „Arche“ mit behinderten Menschen zusammen. Eines Abends lädt Jean-Marie Guénard ein, mit ihm Jesus zu besuchen. Er denkt, dass Jesus ein Kumpel seines Freundes ist und folgt ihm in eine Kirche. Es wird der Abend, der sein Leben verändern wird. „Bei Jesus“ lernt Guénard Père Thomas Philippe, kennen. Der Gründer der Arche lässt sich von den Ausrastern nicht abschrecken. „Jesus kennt dein Herz. Sprich mit ihm. Er kennt dich und er liebt dich“, sagt der Priester seinen Schützling.
Kompromisslos und sofort: Er will „Geselle des Christentums“ sein
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Tim Guénard hält heute Vorträge und berichtet von seinem Schicksal. Foto: Croix du Nord |
Der junge Mann fasst Vertrauen und will in der Arche ein „Geselle des Christentums“ werden, das sofort und ohne Kompromisse. Als man ihn nicht gleich als festen Mitarbeiter aufnehmen will, reagiert er wie gewohnt: Er rastet aus und reißt aus. Doch Gott lässt ihn nicht laufen, er verlässt ihn nicht. Seine Flucht führt ihn nach Taizé zu Frère Roger.
Eines Tages trifft Guénard in Paris eine Freundin aus der Arche wieder. Martine, die Tochter aus einer angesehenen Familie, macht ihm bald einen Heiratsantrag. Der junge Mann ist überrascht, verwirrt und lehnt ab. Doch Martine lässt nicht locker. Das Eheleben in Paris wird zur Berg- und Talfahrt. Das junge Paar spürt, dass es Abstand von Tims Vergangenheit und Martines Familie gewinnen muss. Da kommt das Angebot, eine christliche Gemeinschaft in Lourdes aufzubauen, zur richtigen Zeit. Heute wohnt Tim Guénard mit seiner Frau Martine und seinen vier Kindern in einem großen Haus auf den Hügeln über Lourdes und der 55-Jährige gilt als Experte für Traumata. Jugendliche, die ein ähnliches Schicksal haben, nimmt er in seinem Haus auf. Im Vertrauen auf Gott, der ihn nie verlassen wird, kann das ehemalige „Boxerkind“ (so der Titel seiner Biografie) sein Kriegsbeil begraben und seinem Vater vergeben. Die Mutter lehnt jeden Annäherungsversuch ab.
Tim Guénard, der als Sozialarbeiter, Imker, Bildhauer und Maler arbeitet, verlässt seine Familie, seine Jugendlichen und seine Bienen nur, um Vorträge zu halten und um aus seinem Leben zu erzählen. Aus einem Leben, in dem der Glaube gesiegt hat, dass Gott ihn nicht verlässt.
Von Marilis Kurz-Lunkenbein
Tim Guénard: Boxerkind. Überleben in einer Welt ohne Liebe, Fe-Medienverlag, 240 Seiten,
8,95 Euro